Beschluss vom 4. Dezember 2023, 11 Verg 5/23
Der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Frankfurt hat sich in einer aktuellen Entscheidung (Beschluss vom 4. Dezember 2023, 11 Verg 5/23) im Rahmen eines Vergabeverfahrens über Reinigungsdienstleistungen mit der rechtlich immer wieder schwierig zu fassenden Frage der Erkennbarkeit von Vergabeverstößen in den Vergabeunterlagen befasst – diesmal am Fall der Vermischung von Eignungs- und Wertungskriterien.
Schwerpunktmäßig setzt sich der Senat mit dem Eintritt der Präklusionswirkung des § 160 Abs. 3 Nr. 3 GWB und der entscheidenden Frage auseinander, unter welchen Voraussetzungen die Rügepflicht ausgelöst wird. Hinsichtlich des hierfür maßgeblichen Kriteriums der Erkennbarkeit stellt der Senat klar, dass es auf einen durchschnittlichen Bieter ankomme, der im Rahmen seiner laienhaften rechtlichen Wertungsmöglichkeiten erkennen kann, dass es „so nicht geht“. Dass es kein Mehr oder Weniger an Eignung gibt und Eignungs- und Wertungskriterien grundsätzlich zu trennen sind, gehöre dabei zum durchschnittlichen Bieterwissen.
Entsprechend sei die Vermengung von Eignungs- und Wertungskriterien bereits vor Angebotsabgabe durch den Bieter zu rügen, wenn dadurch unklar bleibt, ob eine Doppelverwertung stattfindet oder was in welchem Kontext geprüft werden soll. Anderenfalls droht die Präklusion.
Die Auftraggeberin schrieb die Durchführung von Reinigungsdienstleistungen für die Unterhaltsreinigung und die Glasreinigung für eine Hochschule im offenen Verfahren in zwei Losen aus. Im Rahmen der Bekanntmachung stellte sie Anforderungen an die Referenzen der Bieter, welche eine Eigenerklärung zur technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit unter Angabe zweier Referenzprojekte aus den letzten drei Jahren über vergleichbare Objekte beinhalten sollte.
Hinsichtlich der Zuschlagskriterien wurde in den Bewerbungsbedingungen vorgegeben, dass der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot entsprechend den nachfolgenden Kriterien erteilt werden sollte:
Preis (60 Prozent), durchschnittlicher Leistungswert (qm/Stunde) aller Raumgruppen (35 Prozent) und die Vorlage von Referenzen (5 Prozent). Zu letzterem Kriterium hieß es weiter:
„Erbringt der Bieter die erforderlichen Referenzen, so erhält er die volle Punktzahl von 5 Punkten.“
Weiterhin beinhalteten die Vergabeunterlagen eine Datei, in der die Bieter ihre Stundenverrechnungssätze berechnen sollten, sowie ein Schreiben zu den im Verfahren zwingend erforderlichen Ortsbesichtigungen unter Angabe von drei möglichen Terminen.
Mit Schreiben vom 10. Juli 2023 teilte die Auftraggeberin der Antragstellerin mit, dass ihre Angebote sowohl für Los 1 als auch für
Los 2 nicht berücksichtigt werden sollten, da es sich bei diesen jeweils nicht um die wirtschaftlichsten Angebote handeln würde.
Die Antragstellerin erhob hiergegen Rüge und legte, nachdem dieser nicht abgeholfen wurde, am 18. Juli 2023 einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer des Landes Hessen ein. Sie begründet diesen u. a. damit, dass die Auftraggeberin gegen das Doppelverwertungsverbot verstoßen habe, indem sie die Referenzen der Bieter sowohl als Eignungs- als auch als Zuschlagskriterium verwendet habe. Darüber hinaus rügte sie, dass die von der Auftraggeberin durchgeführte Ortsbesichtigung ohne Wahrung des Geheimnisses der Bieteridentität einen Verstoß gegen den Grundsatz des Geheimwettbewerbs darstelle sowie die fehlende Auskömmlichkeit der Angebotspreise der berücksichtigten Bieter.
Die Vergabekammer Hessen wies den Nachprüfungsantrag teils als unzulässig, im Übrigen als offensichtlich unbegründet zurück, worauf die Antragstellerin sofortige Beschwerde einlegte.
Das Gericht stellte fest, dass die sofortige Beschwerde zulässig, aber unbegründet sei.
Sowohl hinsichtlich der Rüge der Verletzung des Grundsatzes des Geheimwettbewerbs als auch im Hinblick auf den Einwand der fehlenden Auskömmlichkeit sei bereits die erforderliche Antragsbefugnis nicht gegeben. Hierzu fehle bereits ein relevanter Vortrag, dass der Antragstellerin hierdurch ein Schaden in Form einer verschlechterten Auftragschance entstanden sei. Die Antragstellerin habe die Behauptung unauskömmlicher Preisbildung zudem nicht weiter plausibiliert, es handele sich um einen willkürlichen Vortrag „ins Blaue hinein“.
Hinsichtlich des geltend gemachten Verstoßes gegen das Doppelverwertungsverbot sei die sofortige Beschwerde zwar zulässig, aber unbegründet. Die Antragstellerin sei mit dem Einwand, die Referenzen seien unzulässigerweise sowohl als Eignungs- als auch als Wertungskriterium berücksichtigt worden, bereits präkludiert und der Nachprüfungsantrag daher unzulässig gewesen.
Nach § 160 Abs. 3 Nr. 3 GWB ist ein Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit Verstöße gegen Vergabevorschriften, die erst in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden. Zur Begründung des Eingreifens dieser Präklusionsvorschrift setzte sich das Gericht vertieft mit den Anforderungen an die Erkennbarkeit eines Vergaberechtsverstoßes auseinander.
Hier sei von einer solchen Erkennbarkeit auszugehen. Der Senat führte aus, dass auf einen durchschnittlichen Bieter mit laienhaften rechtlichen Wertungsmöglichkeiten abzustellen sei, der die Grundstrukturen des Vergabeverfahrens kenne und damit auch die grundsätzliche Unterscheidung bzw. strikte Trennung von Eignungs- und Wertungskriterien. Ein durchschnittlicher Bieter wisse daher auch, dass es kein Mehr oder Weniger an Eignung im Sinne des § 122 GWB gebe und würde sich bei der Ausarbeitung seines Angebots mit beiden Kriterien befassen. Entsprechend könne er daher erkennen, dass die Referenzen sowohl bei der Eignung als auch bei den Wertungskriterien berücksichtigt würden. Die Bezeichnung der Referenzen als „erforderlich“ im Rahmen der Wertungskriterien lasse zudem erkennen, dass keine klare Trennung zwischen Eignungs- und Wertungskriterien vorliege. Es lasse sich daraus auch kein Anhaltspunkt entnehmen, ob die Auftraggeberin hier Unterschiedliches prüfe und was damit Gegenstand der Eignungsprüfung und was Gegenstand der Wertung sein solle. Der Bieter könne entsprechend auch erkennen, dass entweder die Eignung im Zuge der Wertung nochmals („doppelt“) berücksichtigt werde oder dass sich jedenfalls aus den Vergabeunterlagen nicht ergebe, welche ggf. abweichenden Wertungskriterien in Bezug auf die Referenzen Verwendung fänden.
Diese – erkennbare – Unklarheit begründe für sich genommen bereits die Rügeobliegenheit des Bieters hinsichtlich der Unzulässigkeit der Verwertung der Referenzen. Hierzu genüge die Erkenntnis des Bieters, dass es „so nicht geht“. Dieser Rügeobliegenheit könne sich der Bieter auch nicht dadurch entziehen, dass er den Rechtsfehler im Nachprüfungsverfahren mit Unterstützung eines Rechtsanwalts einer klaren juristischen Zuordnung unterziehe.
Die beiden Beschlüsse der VK Karlsruhe (Beschluss vom 12.11.2019, 1 VK 62/19) und des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 29.04.2015, VII-Verg 35/14) sieht das OLG Frankfurt in diesem Kontext als nicht vergleichbar an. In diesen Entscheidungen wurde eine Präklusionswirkung bezüglich der Erkennbarkeit des Verstoßes der unzulässigen Vermischung von Eignungs- und Zuschlagskriterien abgelehnt, weil Fragestellungen im Zusammenhang mit der notwendigen Trennung von Eignungs- und Zuschlagskriterien regelmäßig nicht zu den Problemkreisen gehörten, die für durchschnittliche Bieter erkennbar seien.
Laut OLG Frankfurt betreffe der Rechtsfehler im vorliegenden Streitfall jedoch nicht erst das vom Bieter möglicherweise nicht überschaubare Problem, ob und inwieweit Referenzen auf Grundlage eindeutiger Vergabeunterlagen auch bei der Angebotswertung und nicht nur bei der Eignungsprüfung berücksichtigt werden dürfen. Die Erkennbarkeit des Vergabeverstoßes ergebe sich hier bereits aus der bloßen Unklarheit der Vergabeunterlagen: Es liege entweder eine erkennbar unzulässige Berücksichtigung bei der Wertung oder eine Unklarheit der Wertungskriterien vor. Schon diese Unklarheit würde den durchschnittlichen Bieter bereits zu einer Rüge veranlassen.
Im hiesigen Fall setzt sich das OLG Frankfurt mit der praxisrelevanten Frage der Erkennbarkeit von Vergaberechtsverstößen auseinander. Diese Frage bereitet immer wieder Schwierigkeiten, weil es stets auf die Einzelheiten der Fallgestaltung ankommt und graduelle Unterschiede in vielen Fällen eine andere rechtliche Bewertung zulassen. Dabei ist diese Frage als Zulässigkeitsvoraussetzung für einen Nachprüfungsantrag von entscheidender Bedeutung; denn hat der Bieter einen erkennbaren Vergabeverstoß nicht rechtzeitig gerügt, droht die Präklusion, ohne dass es auf seinen materiell-rechtlichen Vortrag ankommt. Der „durchschnittliche Bieter“ gerät bei alledem mit seinem Vergabewissen oft an Grenzen.
Neben den beiden bereits genannten Entscheidungen der VK Karlsruhe und des OLG Düsseldorf hat sich zuletzt die VK Südbayern (Beschluss vom 02.04.2019, Z 3-3-3194-1-43-11/18) mit der Präklusionswirkung bei der Doppelnennung von Referenzen im Rahmen von Eignungs- und Wertungskriterien auseinandergesetzt. Auch die VK Südbayern kommt unter Hinweis auf die Entscheidung des OLG Düsseldorf zu dem Ergebnis, dass die Erkennbarkeit des Verstoßes der unzulässigen Vermischung von Eignungs- und Zuschlagskriterien nicht von einem durchschnittlichen Bieter erwartet werden könne und vergaberechtliche Spezialkenntnisse erfordere.
Diesen Entscheidungen ist jedoch gemein, dass es sich bei der Doppelverwertung der Referenzen um Fälle handelte, in denen diese neben der Eignungsprüfung auch für die Bewertung der Qualität der Ausführung im Rahmen der Zuschlagskriterien herangezogen wurden. Anders als im vorliegenden Fall des OLG Frankfurt bestand also gerade keine Unklarheit darüber, ob überhaupt eine Doppelverwertung stattfindet bzw. welche Nachweise bzw. Bieterangaben bei der Eignung respektive bei der Wertung geprüft werden. Vorliegend blieb bei dem Zuschlagskriterium „Vorlage von Referenzen“ vielmehr schon von vornherein offen, ob auf der Wertungsebene überhaupt etwas Anderes als auf der Eignungsebene geprüft werden sollte – oder eben doch das Gleiche. Das Gericht stellt daher nachvollziehbar fest, dass bei einer solchen Unklarheit der Vergabeunterlagen bereits eine Rügeobliegenheit entsteht.
Für Bieter lässt sich aus der Entscheidung ableiten, dass die Abgrenzung zwischen Eignungs- und Wertungskriterien in den Vergabeunterlagen stets sorgfältig geprüft werden sollte. Angesichts der unübersichtlichen Rechtsprechung müssen Unklarheiten darüber, was auf welcher Ebene geprüft bzw. gewertet werden soll, frühzeitig durch eine Bieterfrage aufgeklärt oder gerügt werden, um einer Rügepräklusion zu entgehen.
Veranstaltungen zum Vergaberecht
Wir verwenden Cookies, um die Benutzerfreundlichkeit unserer Website zu verbessern und sicherzustellen, dass Sie die bestmögliche Erfahrung auf unserer Website machen. Erfahren Sie mehr.