EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2017 – Az. C-198/16
Sachverhalt
Die Europäische Kommission schrieb mit einer Bekanntmachung einen Auftrag für den Aufbau eines Netzwerks für die Umsetzung der Europäischen Innovationspartnerschaft Landwirtschaftliche Produktivität und Nachhaltigkeit aus.
EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2017 – Az. C-198/16
Die Europäische Kommission schrieb mit einer Bekanntmachung einen Auftrag für den Aufbau eines Netzwerks für die Umsetzung der Europäischen Innovationspartnerschaft Landwirtschaftliche Produktivität und Nachhaltigkeit aus. Die Aufgaben des zukünftigen Auftragnehmers waren in neun Hauptaufgaben unterteilt. In den Vergabeunterlagen war der Mindestpersonalbestand für die Erfüllung der Hauptaufgaben angegeben. Nach den Vergabeunterlagen musste der Auftragnehmer auch für eine angemessene Personalausstattung sorgen, um dem Personal neben den Hauptaufgaben auch die Erledigung von zusätzlichen Aufgaben zu ermöglichen. Ein Gesamtbudget von maximal EUR 2,5 Mio. pro Jahr war für die gemeinsame Durchführung der Hauptaufgaben und der zusätzlichen Aufgaben vorgesehen.
Letztlich kamen zwei Bieter für die Beauftragung in Betracht. Der Angebotspreis des einen Bieters betrug EUR 2,32 Mio. pro Jahr. Die spätere Rechtsmittelführerin Agriconsulting Europe SA gab ein Angebotspreis in Höhe von EUR 1,32 Mio. pro Jahr ab.
Nach einer Aufklärung des Angebotspreises der Rechtsmittelführerin teilte die Kommission der Rechtsmittelführerin mit, dass ihr Angebot nicht ausgewählt worden sei, da es auch nach der Aufklärung und den überreichten Unterlagen als ungewöhnlich niedrig erachtet wurde. Gegen dieses Vorgehen wandte sich die Rechtsmittelführerin mittels Klage. Das Gericht der Europäischen Union wies die Klage im Januar 2016 in vollem Umfang zurück. Hiergegen wandte sich Rechtsmittelführerin an den EuGH.
Ohne Erfolg. Der Ausschluss des Angebots der Rechtsmittelführerin wegen eines ungewöhnlich niedrigen Angebots ist nach Auffassung des EuGH nicht zu beanstanden.
Art. 139 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2342/2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften bestimmt (ähnlich den Bestimmungen in den Vergaberichtlinien, z.B. Art 69 der RL 2014/24/EU), dass, sofern bei einem bestimmten Auftrag Angebote im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein scheinen, der öffentliche Auftraggeber vor Ablehnung dieser Angebote schriftlich die Aufklärung über die Einzelposten des Angebots verlangen muss, die er für angezeigt hält.
Der öffentliche Auftraggeber ist aufgrund dieser Bestimmung verpflichtet,
Jedoch nur, wenn von vornherein zweifelhaft ist, ob ein Angebot verlässlich ist, gelten für den öffentlichen Auftraggeber die in dieser Bestimmung vorgesehenen Verpflichtungen, einschließlich der vorliegend maßgeblichen Verpflichtung, die Seriosität der vorgeschlagenen Preise anhand der wirtschaftlichen Bezugsparameter im Einzelnen zu prüfen. Insoweit ist es mangels einer Definition des Begriffs „ungewöhnlich niedriges Angebot“ oder Regeln zur Identifizierung eines solchen Angebots Sache des öffentlichen Auftraggebers, die für die Identifizierung der ungewöhnlich niedrigen Angebote verwendete Methode festzulegen, vorausgesetzt, dass diese Methode sachlich und nicht diskriminierend ist.
Im vorliegenden Fall hat der Bewertungsausschuss der Kommission das Angebot der Rechtsmittelführerin als ungewöhnlich niedrig identifiziert, indem er deren Preis mit dem in den Vergabeunterlagen vorgesehenen Budget in Höhe von EUR 2,5 Mio. verglichen hat. Während das Angebot des einen Bieters leicht unter diesem Budget lag, lag das Angebot der Rechtsmittelführerin ca. EUR 1 Mio. unterhalb des Budgets. Entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin spricht nichts dagegen, dass der Auftraggeber die Angebote mit dem veranschlagten Budget vergleicht und eines davon als auf den ersten Blick ungewöhnlich niedrig identifiziert, wenn die Höhe dieses Angebots erheblich unter dem veranschlagten Budget liegt. Die Rechtsmittelführerin hat namentlich nicht dargetan, aus welchem Grund eine solche Vorgehensweise nicht sachlich oder warum sie diskriminierend sein sollte.
Die Entscheidung ist zu begrüßen. Sie verdeutlicht, dass es grundsätzlich Sache des Auftraggebers ist, zu beurteilen, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist (und einer Preisaufklärung bedarf) oder eben nicht. Sie steht auch im Einklang mit den Regelungen zu ungewöhnlich niedrigen Angeboten im deutschen Recht, u.a.
Danach gilt im Kern Folgendes:
Erscheinen der Preis oder die Kosten eines Angebots im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig, muss der Auftraggeber vom Bieter Aufklärung verlangen. Dabei hat der Auftraggeber die Zusammensetzung des Angebots zu prüfen. Die Prüfung kann insbesondere die Wirtschaftlichkeit der nachgefragten Leistung, die gewählten technischen Lösungen oder die außergewöhnlich günstigen Bedingungen, über die das Unternehmen bei der Lieferung der Waren oder bei der Erbringung der Dienstleistung (angeblich) verfügt sowie die Besonderheiten der angebotenen Leistung erstrecken. Kann der öffentliche Auftraggeber nach der Prüfung sodann die geringe Höhe des angebotenen Preises oder der angebotenen Kosten nicht zufriedenstellend aufklären, hat er also weiterhin Zweifel an der Auskömmlichkeit des Preises, darf er den Zuschlag auf dieses Angebot ablehnen. Anderenfalls kann er es im Verfahren belassen (und werten).
Der EuGH hat nunmehr zutreffend klargestellt, dass ein angebotener Preis auch dann ungewöhnlich niedrig erscheinen darf, wenn dieser von der im Vorfeld der Vergabe getroffenen Auftragswertschätzung (und dem veranschlagten Budget) abweicht. Dem pflichtgemäß geschätzten Auftragswert hat dabei der Wert zugrunde zu liegen, den ein umsichtiger und sachkundiger öffentlicher Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung des relevanten Marktsegmentes und im Einklang mit den Erfordernissen betriebswirtschaftlicher Finanzplanung bei der Anschaffung der vergabegegenständlichen Sachen bzw. Leistungen veranschlagen würde (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 29.06.2017 Az. 13 Verg 1/17; Vergabeblog.de vom 09/10/2017, Nr. 33284).
Der Ansatz des EuGH ist freilich nicht neu. Dieser Maßstab findet sich auch bereits in einigen Landesvergabesetzen. So nennen die Landesvergabesetze in Mecklenburg-Vorpommern (§ 6 Abs. 2 Satz 1 VgG M-V), in Berlin (§ 3 BerlAVG) und in Bremen (§ 14 Abs. 2 Tariftreue- und Vergabegesetz) beispielsweise bereits die ordnungsgemäße Kostenschätzung des Auftraggebers als einen maßgeblichen Anhaltspunkt, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt oder nicht. Es ist mithin nicht zwangsläufig ein Vergleich mit den anderen im Wettbewerb eingegangenen Angebotspreisen durchzuführen oder gar immer auf das nächstgünstige Angebot abzustellen. Mit anderen Worten:
Wenn der Auftraggeber Sorge hat, dass der angebotene Preis auskömmlich ist, muss er den Preis mit dem betroffenen Bieter aufklären. Der Grund für die Sorge bzw. die Methode zur Bestimmung eines ungewöhnlich niedrig erscheinenden Angebots obliegt dabei einzig und allein dem Auftraggeber. Bieter haben darauf keinen Einfluss. Insofern kann die Simulation eines konkurrierenden Bieters, die darin besteht, die im Angebot vorgeschlagenen Preise anhand der wirtschaftlichen Bezugsparameter im Einzelnen zu überprüfen, nicht den Nachweis erbringen, warum der Auftraggeber im Vorhinein an der Seriosität dieses Angebots hätte zweifeln sollen. Dies stellt der EuGH klar.
Die in vielen Landesvergabegesetzen vorgesehene Aufgreifschwelle von mindestens 10% unter dem nächsthöheren Angebot (siehe z.B. § 3 des Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetz (BerlAVG), § 4 Abs. 6 Satz 2 TVgG NRW oder § 7 Satz 2 des Niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetz (NTVergG)) können daher nur Indizien darstellen, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist oder nicht. Es kann insofern wie seitens der Spruchpraxis der Nachprüfungsinstanzen vereinzelt entschieden (vgl. aus jüngerer Zeit VK Lüneburg, Beschluss vom 13. Juli 2017 – Az. VgK-17/2017; VK Nordbayern, Beschluss vom 7. September 2017 – Az. 21.VK-3194-02-04) auch keine Regel dahingehend geben, dass ab einer Abweichung von 20% vom nächstniedrigeren Angebot generell von einem Niedrigangebot im Sinne der §§ 60 VgV, 44 UVgO, 16d EU VOB/A bzw. der Landesvergabegesetze auszugehen ist. Es kommt vielmehr entscheidend auf den konkreten Markt und den Vergabegegenstand an. Teilweise können bereits Abweichungen von 5% einen entsprechenden Verdacht begründen, teilweise Abweichungen von 30% als marktüblich und daher unkritisch anzusehen sein. Die Entscheidung des EuGH ist zu begrüßen und sorgt für mehr Rechtssicherheit bei der Preisprüfung.
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