Beschluss vom 1. Dezember 2020, VK 1-90/20
Die Vergabekammer des Bundes hatte sich mit der Frage zu befassen, ob ein Zuschlagskriterium vergaberechtskonform ist, das Angebote besser bewertet, die hinsichtlich der zu liefernden Produkte den Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der EU, in GPA-Unterzeichnerstaaten bzw. in der Freihandelszone der EU erbringen. Im Ergebnis hat die Vergabekammer dies verneint und damit zugleich zum Ausdruck gebracht, dass Produktionsstandorte in Drittstaaten nicht ungleich behandelt werden dürfen (Beschluss vom 1. Dezember 2020, VK 1-90/20 – nicht rechtskräftig).
In dem EU-weiten Vergabeverfahren ging es um die Beschaffung von wirkstoffbezogenen Arzneimittelrabattvereinbarungen gemäß § 130a Abs. 8 SGB V. Der Auftraggeber hatte hierbei u.a. das Zuschlagskriterium „geschlossene EU-Lieferkette“ vorgesehen. Danach sollten Angebote im Rahmen der Wertung einen Wirtschaftlichkeitsbonus erhalten, wenn nachgewiesen wird, dass sämtliche Produktions-, Verarbeitungs-, Verpackungs- und Lieferstätten und damit der gesamte Herstellungs- und Verarbeitungsprozess („Lieferkette“) innerhalb der EU, der GPA-Unterzeichnerstaaten bzw. der Freihandelszone der EU liegt.
Der Antragsteller, ein Generikahersteller mit Sitz in Deutschland und überwiegender Produktion in Indien, sah hierin einen Verstoß gegen die Anforderungen an ein vergaberechtskonformes Zuschlagskriterium sowie eine Ungleichbehandlung der Bieter.
Die Vergabekammer des Bundes hat den Nachprüfungsantrag als zulässig und begründet angesehen. Das Zuschlagskriterium „geschlossene EU-Lieferkette“ verstoße gegen § 127 Abs. 4 GWB, § 127 Abs. 3 GWB sowie den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des § 97 Abs. 2 GWB.
a) Bereits das Kriterium „Lieferkette“ sei kein objektives und damit geeignetes Zuschlagskriterium, das eine willkürfreie Zuschlagserteilung unter Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ermögliche. Zuschlagskriterien verfolgten den Zweck, Angebote zu vergleichen, um auf dieser Grundlage das für den Auftraggeber wirtschaftlichste Angebot zu ermitteln. Dabei könnten auch ökologische und soziale Aspekte berücksichtigt werden, weshalb die mit dem Kriterium „Lieferkette“ beabsichtigte Berücksichtigung der Versorgungssicherheit sowie die Einhaltung gewisser Um welt- und Sozialstandards dem Grunde nach nicht zu beanstanden sei. Allerdings genüge die gewählte Umsetzung nicht den vergaberechtlich gebotenen Anforderungen an die Ausgestaltung von Zuschlagskriterien.
Wenngleich das Vergaberecht keine Legaldefinition des Begriffs Zuschlagskriterium enthalte, sei die gesetzgeberische Absicht erkennbar, Zuschlagskriterien nur dann anzuerkennen, wenn sie einen objektiven Wertvergleich der Angebote ermöglichen, der alle Bieter gleich behandelt. Dabei könnten Objektivität und Gleichbehandlung nicht pauschal danach beurteilt werden, dass für alle Bieter das Zuschlagskriterium „Lieferkette“ objektiv ist (= Produktionsstandort ist eindeutig feststellbar) und innerhalb des Kriteriums für alle Bieter die gleichen Maßstäbe gelten (= Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kreis von Staaten gewährt einen Wertungsvorteil). Diese Betrachtung ermögliche gerade im vorliegenden Fall keinen diskriminierungsfreien Vergleich der Angebote auf einer objektiven Grundlage. Es handle sich vielmehr um ein Zuschlagskriterium von abstrakt-genereller Natur, das eine Gruppe von Bietern – ungeachtet auch hier bestehender Unterschiede – pauschal mit einem Wertungsbonus privilegiert, während eine andere Gruppe – ebenfalls ungeachtet bestehender Unterschiede – diesen Bonus einheitlich nicht erhält, ohne dass der Bezugspunkt (Produktionsstandort) die gewünschten Unterscheidungsmerkmale (mehr Versorgungssicherheit, höhere Umwelt- und Sozialstandards) tatsächlich aufzuweisen vermöge. Tatsächlich stelle die Differenzierung allein auf die Unterzeichnung bestimmter internationaler Abkommen (Mitglied der EU oder der EU-Freihandelszone oder des GPA) ab. Auch wenn innerhalb der EU noch einheitliche Vorgaben in Bezug auf Sozial- und Umweltstandards gelten dürften, sei dies für die (meisten) Staaten mit EU-Freihandelsabkommen und die GPA-Unterzeichnerstaaten aber nicht der Fall.
Die vom Auftraggeber herangezogene Differenzierung innerhalb des Zuschlagskriteriums „Lieferkette“ beinhalte im Ergebnis eine Ungleichbehandlung der Bieter und sei damit nicht geeignet, einen sachgerechten Vergleich der Angebote zu gewährleisten, so die Vergabekammer. In diesem Zusammenhang weist sie darauf hin, dass das Vergaberecht eine Ungleichbehandlung von Drittstaaten nicht legitimiert. Allein im Bereich des Sektorenvergaberechts sieht § 55 SektVO die Möglichkeit der Zurückweisung von Angeboten vor, die einen Warenanteil von mehr als 50 Prozent aus Drittstaaten aufweisen. Auf das im vorliegenden Fall anwendbare klassische Vergaberecht lässt sich dies mangels eigener Regelungen nicht übertragen; auch die bisherigen Aktivitäten der EU sind bis dato noch nicht in einer gesetzlichen Regelung gemündet.
b) Auch besteht nach Ansicht der Vergabekammer im Zuschlagskriterium „Lieferkette“ keine Verbindung mit dem Auftragsgegenstand (§ 127 Abs. 3 GWB). Zwar reiche ein weiter Auftragsbezug aus, der sich auch auf dem Herstellungsprozess oder eine andere Phase des Lebenszyklus der zu beschaffenden Leistung beschränken könne oder mittelbare bzw. sekundäre Ziele wie soziale oder umweltbezogene Aspekte verfolge. Die vom Auftraggeber intendierte Versorgungssicherheit und das Vorhandensein gewisser Sozial- und Umweltstandards erfülle diese Anforderung zwar, nicht aber das Zuschlagskriterium an sich. Denn die an einem bestimmten Standort allgemein geltenden Sozial- und Umweltstandards gehörten nicht zum spezifischen Prozess der Herstellung der ausgeschriebenen Ware oder Leistung. Es handele sich vielmehr um gesetzliche Rahmenbedingungen, die je nach Standort variieren könnten, letztlich aber durch ein Unternehmen, das bereits eine Standortentscheidung getroffen habe, bei der Erfüllung des ausgeschriebenen Auftrags nicht mehr beeinflusst werden könnten. Demzufolge handelt es sich nach Ansicht der Vergabekammer beim Produktionsstandort um eine Eigenschaft, die nicht spezifisch die hier ausgeschriebenen Leistungen betrifft, sondern alle durch das Unternehmen am jeweiligen Standort hergestellten Waren kennzeichnet und zudem nicht geeignet ist, die verfolgten Ziele (mehr Versorgungssicherheit, höhere Sozial- und Umweltstandards) zu verwirklichen.
Der Ort der Herstellung einer Lieferleistung sei zudem eine unternehmensbezogene Eigenschaft, da er der Leistung nicht als solcher unmittelbar anhafte, sondern das Ergebnis einer unternehmerischen Entscheidung über die geographische Allokation der Ressourcen sei, die dem Bereich der generellen, also gerade nicht auf den konkreten Auftrag bezogenen Unternehmenspolitik zuzurechnen sei.
c) Schließlich sieht auch die Vergabekammer in dem Zuschlagskriterium einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des § 97 Abs. 2 GWB. Die unterschiedliche Behandlung bestimmter Gruppen von Staaten bei der Wirtschaftlichkeitsbewertung ermögliche wie bereits ausgeführt keinen objektiv-sachgerechten Vergleich der Angebote und ist auch nicht aus anderen Gründen sachlich gerechtfertigt. Auch wenn der von dem Kriterium negativ betroffene Bieter ohne Weiteres in der Lage wäre, seinen Produktionsstandort in einen durch die Zuschlagskriterien privilegierten Staat zu verlagern, um so in den Genuss des Wertungsbonus zu gelangen, vermöge dies die Vergaberechtswidrigkeit des gewählten Zuschlagskriteriums nicht zu beseitigen.
Da der Auftraggeber sofortige Beschwerde zum OLG Düsseldorf (Verg 54/20) eingelegt hat, ist die Entscheidung der Vergabekammer nicht rechtskräftig.
Das Vorgehen des Auftraggebers in dem gegenständlichen Vergabeverfahren fällt in die häufig anzutreffende Rubrik „Knapp daneben ist auch vorbei“. Wenngleich die mit dem Zuschlagskriterium verfolgten Zielsetzungen einer erhöhten Liefersicherheit und der Gewährleistung von Sozial- und Umweltstandards für sich betrachtet anerkennenswert und spätestens seit der Vergaberechtsreform 2014/16 über eine sehr geringe Anforderung hinsichtlich des Bezugs zum Auftragsgegenstand auch vergaberechtlich salonfähig sind, ist der Auftraggeber hier bei der Umsetzung zu kurz gesprungen. Die Abbildung dieser Zielsetzungen über das Kriterium „Lieferkette außerhalb von Drittstaaten“ führt zu einer Verzerrung, da es – wie die Vergabekammer nachvollziehbar ausführt – schlicht nicht zutrifft, dass alles, was innerhalb der EU, des GPA oder der EU-Freihandelszone stattfindet, per se gut und alles, was in Drittstaaten passiert, per se schlecht ist.
In der Praxis kommen solche Konstellationen immer wieder vor, wo Auftraggeber zulässige Aspekte wie schnelle Reaktionszeiten, gute Qualität oder hohe soziale Produktionsstandards dadurch sicherstellen wollen, dass sie Bieter aus Drittstaaten nicht zum Wettbewerb zulassen. Hier werden Ursache und Wirkung miteinander verwechselt. Denn es ist von der vergaberechtlichen Rechtsprechung wiederholt zum Ausdruck gebracht worden, dass das Vergaberecht – außer der Spezialnorm des § 55 SektVO im Sektorenvergaberecht – keine Regelung enthält, mit denen ein Auftraggeber Unternehmen aus Drittstaaten von öffentlichen Aufträgen fernhalten kann. Die EU befasst sich zwar seit 2016 mit entsprechenden Gesetzgebungsinitiativen. Aber auch die jüngste Ausprägung unter dem Stichwort „International Procurement Instrument“ hat noch zu keiner Regelung geführt. Und solange das Vergaberecht eine Teilnahme von Unternehmen aus Drittstaaten nicht verbietet, müssen diese Unternehmen zum Wettbewerb zugelassen werden und können sogar entsprechenden Rechtsschutz vor den Nachprüfungsinstanzen in Anspruch nehmen. Das OLG Düsseldorf hat dies schon in seiner Entscheidung zur Beschaffung der Drohne HERON TP (Beschluss vom 31. Mai 2017 – Verg 36/16) prägnant zum Ausdruck gebracht: „Das Europäische Vergaberecht kennt (bisher) keine geographischen Einschränkungen für die Beteiligung an Vergabeverfahren. Der Zugang zu Vergabeverfahren für Unternehmen aus Drittstaaten wird als gegeben angesehen.“
Auftraggeber haben gleichwohl die Möglichkeit, durch entsprechend hohe soziale und umweltbezogene Anforderungen oder Auflagen zur Versorgungssicherheit bzw. zur Reaktionsschnelligkeit ihre originären Zielsetzungen zu erreichen – soweit diese Anforderungen mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen und sachlich gerechtfertigt sind. Ein „Umweg“ über den vergaberechtswidrigen Ausschluss von Bietern aus Drittstaaten ist dann nicht erforderlich, worauf auch die EU-Kommission in ihren Handreichungen zu diesem Thema hinweist (Mitteilung vom 13. August 2019 „Leitlinien zur Teilnahme von Bietern und Waren aus Drittländern am EU-Beschaffungsmarkt“, ABl. EU 2019 C 271/43).
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