OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2023
Bei der Beschaffung von Leistungen im Rahmen sog. Dringlichkeitsvergaben haben öffentliche Auftraggeber strenge Voraussetzungen zu beachten. Ob diese hohen Anforderungen zu lockern sind, wenn besonders sensible Rechtsgüter betroffen sind, ist in der vergaberechtlichen Rechtsprechung und Literatur bislang nicht abschließend geklärt. Aufgrund eines Vorlagebeschlusses in einem aktuellen Beschwerdeverfahren vor dem OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2023, Verg 9/22, ist demnächst eine Entscheidung des EuGH zu dieser Thematik zu erwarten.
Gegenstand des Verfahrens vor dem OLG Düsseldorf ist die Beschaffung von Beförderungsleistungen für Kinder mit Behinderung durch eine kommunale Schulträgerin. Die Schulkinder sind für den Schulbesuch auf die Beförderung mit speziell ausgestatteten Schulbussen angewiesen, die neben Fahrt- auch entsprechend geschultes Begleitpersonal benötigen.
Der insoweit bestehende Vertrag mit dem bisherigen Auftragnehmer lief regulär Ende Januar 2023 aus. Etwa vier Monate vor Vertragsende schrieb die Auftraggeberin die Beförderungsleistungen in drei Gebietslosen im offenen Verfahren europaweit aus. Nachdem die Antragstellerin im November 2022 gemäß § 134 GWB benachrichtigt wurde, für keines der Lose berücksichtigt worden zu sein, stellte sie nach erfolgloser Rüge einen Nachprüfungsantrag bei der VK Westfalen, die ein vorläufiges Zuschlagsverbot aussprach.
Zur Sicherstellung des Schulbesuchs der betroffenen Kinder für die Zeit nach Auslaufen des bisherigen Vertrags leitete die Auftraggeberin daraufhin eine sog. Interimsvergabe für einen Zeitraum von sechs Monaten als Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb wegen besonderer Dringlichkeit ein (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV). Dies begründete sie damit, dass aufgrund des laufenden Nachprüfungsverfahrens die fristgerechte Gewährleistung der schultäglichen Beförderung nicht gewährleistet werden könne. Die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb sei dabei gerechtfertigt, da selbst bei einer verkürzten Angebotsfrist im offenen Verfahren (vgl. § 15 Abs. 3 VgV) wegen der Weihnachtsfeiertage und der für eine Bereitstellung von Fahrzeugen und Personal notwendigen Rüstzeit von mindestens einem Monat ein rechtzeitiger Beginn der Beförderung nicht sichergestellt werden könne.
Die für die Interimsvergabe in zwei von drei Losen bezuschlagte Antragstellerin stellte für die Dringlichkeitsvergabe des dritten Loses nach erfolgloser Rüge erneut einen Nachprüfungsantrag bei der VK, den diese zurückwies. Hiergegen legte die Antragstellerin sofortige Beschwerde beim OLG Düsseldorf ein, wobei sie nach dem zwischenzeitlichen Auslaufen des beauftragten Interimszeitraums nunmehr zu einem Feststellungsantrag übergegangen ist. Das OLG hat dabei die Frage zu klären, ob die Durchführung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb wegen besonderer Dringlichkeit nach den geschilderten Umständen gerechtfertigt war.
Das OLG Düsseldorf hat das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der Erfolg des Rechtsmittels hängt nach Auffassung des OLG von der Frage ab, ob die strengen Voraussetzungen, die an die Vergabe öffentlicher Aufträge im Wege der Dringlichkeitsvergabe gestellt werden, auch in Konstellationen wie der vorliegenden gegeben sind.
Nach § 14 Abs. 4 VgV, der unter Berücksichtigung der EU[1]Vergaberichtlinie 2014/24/EU und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EuGH auszulegen ist, verlangt die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb dreierlei: Erstens müssen dringliche und zwingende Gründe gegeben sein, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgesehenen Fristen nicht zulassen. Zweitens muss ein unvorhersehbares Ereignis vorliegen, das in kausaler Beziehung zu den dringlichen und zwingenden Gründen für die Vergabe steht. Und drittens dürfen die zur Dringlichkeit führenden Umstände nicht durch den Auftraggeber selbst zu verantworten sein.
Nach Auffassung des OLG kann die erste Voraussetzung der dringlichen und zwingenden Gründe im vorliegenden Fall bejaht werden. Denn eine nahtlose Sicherstellung der Beförderung von Schulkindern mit Behinderung über den Zeitpunkt des Vertragsablaufs hinaus erfolge zum Zwecke der Daseinsvorsorge und im Interesse einer besonders vulnerablen Personengruppe. Derartige Umstände ließen es nicht zu, die Mindestfristen in anderen Verfahren einzuhalten. Allerdings scheitert die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb nach Auffassung des OLG bereits an der zweiten Voraussetzung eines – die Dringlichkeit kausal begründenden – unvorhersehbaren Ereignisses. Eine Unvorhersehbarkeit könne nur bei Umständen angenommen werden, die auch bei sorgfältiger Vorbereitung durch den Auftraggeber mit Blick auf die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, der Art des Projekts und der bewährten Praxis nicht hätten vorausgesagt werden können. Dass eine rechtzeitige Vergabe des Beförderungsauftrags für Februar 2023 aufgrund der Stellung eines Nachprüfungsantrags hätte verzögert werden können, sei jedoch nicht unvorhersehbar gewesen. Denn mit der Einleitung von Nachprüfungsverfahren müsse jeder sorgfältige Auftraggeber rechnen und dies in ausreichendem Maße in seine Zeitplanung miteinbeziehen.
In der Konsequenz, so das OLG, bedeutet dies, dass ein öffentlicher Auftraggeber, will er sich rechtskonform verhalten, es trotz unabweisbaren Bedürfnisses der Auftragsausführung im öffentlichen Interesse hinnehmen muss, wenn die notwendigen Leistungen nicht rechtzeitig erbracht werden. Jedenfalls für unverzichtbare Leistungen der Daseinsvorsorge wie der vorliegenden Sicherstellung des Schultransports für Kinder mit Behinderung hält das OLG ein solches Ergebnis allerdings für nicht sachgerecht. Hierzu verweist es auf Entscheidungen anderer Vergabesenate, wonach Aspekte der Vorhersehbarkeit und Zurechenbarkeit hinter dem Interesse an der Kontinuität der Leistungserbringung zurücktreten müssen, sofern bedeutsame Rechtsgüter wie Leib und Leben oder hohe Vermögenswerte unmittelbar gefährdet sind (vgl. etwa OLG Frankfurt, Beschluss vom 30. Januar 2014 – 11 Verg 15/13). Hier müsse ein Auftraggeber – unabhängig von seinen früheren Versäumnissen – in der Lage sein, mit der Dringlichkeitsvergabe auf eine akute Notlage zu reagieren.
Für eine entsprechende einschränkende Interpretation der Anforderungen des § 14 Abs. 3 Nr. 3 VgV sieht das OLG dabei mit Blick auf die eindeutigen Vorgaben in Art. 32 Abs. 2 lit. c) der Vergaberichtlinie 2014/24/EU im Wege der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung zunächst keinen Raum. Als Lösung schlägt das OLG vor, die einschlägigen Vorschriften der Richtlinie ihrerseits im Lichte höherrangigen Unionsrechts auszulegen und bringt dabei Art. 14 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ins Spiel. Nach dieser Vorschrift haben die Union und die Mitgliedsstaaten bei „Diensten von allgemeinen wirtschaftlichen Interesse“ dafür Sorge zu tragen, dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können. Diese „Funktionsgewährleistungspflicht“ betreffe sämtliche dem Gemeinwohl dienenden Dienste, zu denen auch solche Leistungen gehörten, die sie wie die streitgegenständliche Sicherstellung der Beförderung von Schulkindern mit Behinderung unter dem Tätigkeitsprofil der „Daseinsvorsorge“ beschreiben ließen.
Ob die einschlägigen Vorschriften des EU-Vergaberechts in diese Richtung auszulegen sind, hat nun der EuGH zu klären.
Die zu erwartende Entscheidung des EuGH zum Vorlagebeschluss des OLG Düsseldorf dürfte erhebliche Auswirkungen auf die vergaberechtliche Praxis haben. Dort sind öffentliche Auftraggeber, insbesondere im Bereich der sozialen Dienstleistungen der Daseinsvorsorge sowie der Gefahrenabwehr, häufig mit Konstellationen einer besonderen Dringlichkeit der Auftragsvergabe konfrontiert – und scheitern immer wieder an den strengen rechtlichen Voraussetzungen für die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb. Dies gilt namentlich für das Problem der Zurechenbarkeit der die Dringlichkeit begründenden Umstände auf Seiten der Auftraggeber. Ob die genannten hohen Hürden bei unverzichtbaren Leistungen der Daseinsvorsorge aufrecht zu erhalten sind, wird in der vergaberechtlichen Fachwelt seit Langem diskutiert und nun auch durch das OLG Düsseldorf mit Recht in Frage gestellt. Im Kern geht es dabei um das Problem, ob sich die wettbewerbliche Zielsetzung des Vergaberechts gegen andere konkurrierende Belange des Allgemeinwohls durchsetzt. Dabei muss auch beachtet werden, dass eine Auflockerung der strengen Voraussetzungen für die Dringlichkeitsvergabe aus Sicht eines fairen Wettbewerbs gewisse Missbrauchspotentiale im Lager der Auftraggeber eröffnen kann. So haben einzelne Vergabekammern unter dem Eindruck, Auftraggeber würden durch eine kettenmäßige Vergabe von Interimsaufträgen die Durchführung eines ordnungsgemäßen Vergabeverfahrens verhindern wollen, in der Vergangenheit bereits versucht, mit der Androhung von Zwangsgeldern für Ordnung zu sorgen (was letztlich in der Beschwerdeinstanz korrigiert wurde, s. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. März 2014 – Verg 11/14). Dass für Reichweite und Grenzen von Dringlichkeitsvergaben in sensiblen Sachlagen nunmehr eine verbindliche Klärung durch den EuGH zu erwarten ist, kann vor diesem Hintergrund begrüßt werden.
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