OLG Düsseldorf
Kann ein öffentlicher Auftrag auch dann ausschreibungsfrei geändert werden, wenn er zuvor außerhalb des Vergaberechts inhouse vergeben wurde, die Voraussetzungen für die Inhouse-Vergabe aber zum Zeitpunkt der Vertragsänderung nicht mehr vorliegen? Diese Frage hat das Oberlandesgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 16. Juni 2023 (VII-Verg 29/22) dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (Rechtssache C-452/23). Streitgegenständlich ist im Ausgangsverfahren die ohne Ausschreibung beauftragte Erweiterung von teilweise 30 Jahre alten Konzessionsverträgen über den Betrieb von Tankstellen und Raststätten an Bundesautobahnen um den Betrieb von Schnellladepunkten für Elektrofahrzeuge nach dem Schnellladegesetz. Hiergegen hatten zwei Betreiber von Lade-Infrastrukturen für Elektrofahrzeuge ein Nachprüfungsverfahren eingeleitet.
Im Jahr 1951 gründete der Bund die „Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen mbH“, um so Tankstellen und Raststätten als Teil des Autobahnnetzes betreiben zu lassen. Auch nach Umwandlung in die „Tank & Rast AG“ 1994 blieb der Bund einziger Aktionär. Zwischen 1996 und 1998 wurden mit dieser etwa 280 Konzessionsverträge geschlossen, teils mit Laufzeiten von bis zu 40 Jahren. Dabei erfolgte die Vergabe der Konzessionen ohne Ausschreibung als Inhouse-Geschäft. Nach Privatisierung der Tank & Rast AG liefen die bestehenden Konzessionen weiter, neue kamen – weitgehend ohne Ausschreibung – hinzu.
Am 25. Juni 2021 trat das Schnellladegesetz in Kraft. Dieses verpflichtet in § 5 Abs. 3 Satz 1 Konzessionsnehmer zur eigenwirtschaftlichen Übernahme von Errichtung, Unterhaltung und Betrieb der festgesetzten Schnellladepunkte, soweit die Bereitstellung von Schnelllade-Infrastruktur noch nicht Teil des Konzessionsvertrages ist. Als Folge wurden die bestehenden Konzessionsverträge mit der „Tank & Rast AG“ um diesen Punkt erweitert. Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB beruhende vergaberechtsfreie Erweiterung (Vertragsänderung, wenn Umstände aufgetreten sind, welche die entsprechende Änderung erforderlich scheinen lassen, und diese Umstände für den öffentlichen Auftraggeber bei Vertragsschluss trotz Einhaltung jedweder Sorgfaltspflicht nicht vorhersehbar waren) machte der Auftraggeber nachträglich in TED bekannt.
Die Antragstellerinnen, zwei Betreiber von Lade-Infrastrukturen, beantragten hiergegen die Feststellung der Unwirksamkeit der Auftragserweiterung nach § 135 GWB vor der Vergabekammer des Bundes. Sie argumentierten u. a., dass die Auftragserweiterung eine vergaberechtswidrige de-facto-Vergabe sei, da § 132 GWB nicht einschlägig sei, da die ursprünglichen Konzessionen nicht im Rahmen einer Ausschreibung vergeben worden waren.
Die Vergabekammer des Bundes sah § 132 GWB hingegen auf „Bestandskonzessionen“ als anwendbar an, ordnete den Betrieb der Schnellladepunkte bei funktioneller Betrachtung als „Tanken von Strom“ und damit als unwesentliche Änderung ein und erkannte im Übrigen die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine vergaberechtsfreie Erweiterung nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB wegen unvorhersehbarer Entwicklungen als gegeben an.
Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde nahm das OLG Düsseldorf zum Anlass, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob § 132 GWB bei richtlinienkonformer Auslegung auch für solche Verträge eröffnet ist, die außerhalb des Anwendungsbereichs des GWB-Vergaberechts mit einer Inhouse-Einrichtung geschlossen worden sind, jedoch zum Zeitpunkt der Vertragsänderung die Inhouse-Kriterien nicht mehr erfüllt sind.
Nach Ansicht des Vergabesenats ist der Wortlaut des Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU, auf dem § 132 GWB basiert, nicht hinreichend eindeutig. Zwar spreche die Norm von der Durchführung „neuer Vergabeverfahren“ (was denklogisch auch ein vorangegangenes Vergabeverfahren erfordere) und knüpfe zugleich auch ausdrücklich an das „ursprüngliche Vergabeverfahren“ als Ausgang für die Auftragsänderung an. Dies bedeute aber nicht zwingend, dass das ursprüngliche Vergabeverfahren ein förmliches nach den Regelungen der Richtlinie 2014/24/EU sein müsse, da auch die Beauftragung einer Inhouse-Einrichtung als Vergabe eines Auftrags im Sinne einer „Inhouse-Vergabe“ und der zeitliche Ablauf bis zur Auftragserteilung als Verfahren verstanden werden könne.
Zugleich führe auch die bisherige Rechtsprechung des EuGH nicht zu einem eindeutigen Ergebnis: einigen Entscheidungen, wie u. a. der Pressetext-Entscheidung von 2008 (C-454/06), die Grundlage der heutigen Regelungen über Auftragsänderungen war, lasse sich zwar die Ansicht entnehmen, dass die Möglichkeit der vergaberechtsfreien Änderung auch für Aufträge gelte, die vor Inkrafttreten bzw. Geltung der einschlägigen Unionsvorschriften zum Vergaberecht geschlossen wurden – was dahingehend interpretiert werden könne, dass es auf das Zustandekommen des ursprünglichen Vertrags nicht ankomme. Andere Entscheidungen, wie die des EuGH vom 12. Mai 2022 (C-719/20 „Commune di Lerici“), in der die Übertragung einer Inhouse-Gesellschaft, die mit entsprechenden Aufträgen ausgestattet war, auf ein börsennotiertes Unternehmen, das die Aufträge fortsetzte, als unzulässige Vertragsänderung angesehen wurde, könnten hingegen für eine intendierte generelle Herausnahme von ursprünglich an eine Inhouse-Einrichtung vergebene Aufträge aus dem Anwendungsbereich des Art. 72 sprechen, wenn – wie im hier vorliegenden Fall – die Voraussetzungen für die Inhouse-Vergabe im Zeitpunkt der Vertragsänderung nicht mehr vorliegen.
Da der Vergabesenat – wie zuvor schon die Vergabekammer – die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB für die Erweiterung der Konzessionsverträge um den Betrieb von Schnelllade-Infrastruktur als erfüllt ansieht, kommt es nun nach seiner Ansicht maßgeblich auf die Klärung der vorgelegten Frage an.
In der Praxis ist § 132 GWB mit seinen Möglichkeiten der vergaberechtsfreien Änderung bestehender Aufträge wahrscheinlich eine der am häufigsten in Anspruch genommenen Vorschriften des Vergaberechts. Sein komplizierter Aufbau und die zahlreichen ungeklärten Rechtsfragen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung bilden aber auch immer wieder Stolpersteine und führen – wie hier – zu Nachprüfungsverfahren. Insofern ist es vielleicht auch nicht erstaunlich, dass das OLG Düsseldorf sich in seinem Vorlagebeschluss anders als sonst üblich einer eigenen rechtlichen Einschätzung vollkommen enthält und den EuGH machen lässt. Tatsächlich lassen sich ja für beide Ansichten auch gute Gründe und die entsprechenden Entscheidungen des EuGH heranziehen. Es bleibt insofern zu hoffen, dass der EuGH sich zeitnah der Sache annimmt und eine klare Entscheidung trifft.
Jedenfalls bis dahin kann Vergabestellen, die sich vor vergleichbaren rechtlichen Herausforderungen sehen, nur zu erhöhter Sorgfalt geraten werden. Dazu zählt neben der Kontrollüberlegung, ob die Erweiterungs-/Ergänzungsleistung nicht auch separiert und im Wettbewerb vergeben werden kann, die Nutzung der prozessualen Möglichkeiten, um das Risiko einer gerichtlichen Überprüfung zu reduzieren. Hierzu kann zusätzlich zu einer zeitnahen Veröffentlichung der in den Fällen des § 132 Abs. 5 GWB obligatorischen Ex-post-Bekanntmachung über die vergebene Auftragsänderung, mit der die Möglichkeit der Feststellung einer Unwirksamkeit auf 30 Kalendertage ab Veröffentlichung reduziert wird, auch das Instrument der freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachung nach § 135 Abs. 3 GWB für (beabsichtigte) Auftragsänderungen nach § 132 GWB genutzt werden – was das Risiko eines nachträglichen „Angriffs“ jedenfalls deutlich einschränkt.
Der Vorlagebeschluss des OLG Düsseldorf gibt der Vergabepraxis aber nicht nur „Steine statt Brot“. Denn unmittelbar verwertbar ist jedenfalls die am Rande geäußerte Auffassung des Senats, dass gegen die Anwendbarkeit des § 132 GWB und damit die Möglichkeit der ausschreibungsfreien Auftragsänderung jedenfalls nicht angeführt werden kann, der Ursprungsvertrag sei vergaberechtswidrig zustande gekommen, wenn die Fristen des § 135 Abs. 2 GWB (sechs Monate ab Vertragsschluss bzw. 30 Kalendertage nach Veröffentlichung einer ex-post-Bekanntmachung über den vergebenen (Ursprungs-)Auftrag) abgelaufen sind. Zumindest insoweit stehen Auftragsänderungen also schon heute auf einer sicheren rechtlichen Grundlage.
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