EuGH
Der EuGH hat sich in seinem aktuellen Urteil vom 15.09.2022 (Rs. C-416/21, abrufbar unter folgendem Link) auf einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des BayObLG vom 24.06.2021 (Verg 2/21, abrufbar unter folgendem Link) zu der Frage positioniert, ob, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form sich wirtschaftlich verbundene Bieter jeweils mit einem eigenen Angebot an einer öffentlichen Ausschreibung beteiligen dürfen.
Der Auftraggeber schrieb die Vergabe von öffentlichen Busverkehrsdienstleistungen in einem offenen Verfahren europaweit aus. X ist ein Kaufmann, der unter seiner Firma auftritt; X. Reisen ist eine Busverkehrsgesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Geschäftsführer und Alleingesellschafter X ist. Im Vergabeverfahren gaben unter anderem sowohl X als auch X. Reisen über dieselbe Person, nämlich X, Angebote ab.
Daraufhin teilt der Auftraggeber X und X. Reisen mit, dass ihre Angebote, da von der gleichen Person gefertigt, wegen Verstoßes gegen Wettbewerbsregeln ausgeschlossen worden seien und dass der in Rede stehende Auftrag an die Y GmbH & Co. KG vergeben werden solle.
Nach Zurückweisung ihrer Rügen stellten X und X. Reisen bei der VK Südbayern einen Antrag auf Vergabenachprüfung, dem diese stattgab. Die Vergabekammer verpflichtete den Auftraggeber, die Angebote des X und der X. Reisen wieder in das Vergabeverfahren aufzunehmen. Ein Verstoß gegen Wettbewerbsregeln sei nicht erkennbar.
Gegen diesen Beschluss legte der Auftraggeber sofortige Beschwerde beim BayObLG ein. Er machte geltend, dass es gegen die Interessen der übrigen Bieter verstoße sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz und die Wettbewerbsregeln verletze, wenn zwei Bietern, die eine wirtschaftliche Einheit bildeten, gestattet werde, parallel an dem Vergabeverfahren teilzunehmen. Dies gelte insbesondere deshalb, weil diese Bieter ihre Angebote abstimmen könnten.
Nach Art. 101 Abs. 1 AEUV sind grundsätzlich mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken.
Gemäß Art. 57 Abs. 4 UAbs. 1 lit. d) der Richtlinie 2014/24/EU (Vergaberichtlinie; ins nationale Recht umgesetzt in § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB) können öffentliche Auftraggeber einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen oder dazu von den Mitgliedstaaten verpflichtet werden, wenn der öffentliche Auftraggeber über hinreichend plausible Anhaltspunkte dafür verfügt, dass der Wirtschaftsteilnehmer mit anderen Wirtschaftsteilnehmern Vereinbarungen getroffen hat, die auf eine Verzerrung des Wettbewerbs abzielen.
Das im Rahmen der sofortigen Beschwerde angerufene BayObLG hat zunächst festgehalten, dass X und X. Reisen eine wirtschaftliche Einheit im Sinne der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 17.05.2018, Rs. C-531/16 – Specializuotas transportas, abrufbar unter folgendem Link) darstellten. In der Folge sei das Verbot abgestimmter Verhaltensweisen aus Art. 101 AEUV nicht anwendbar.
Allerdings ist damit ein Ausschluss der Angebote von X und X. Reisen vom Verfahren noch nicht vom Tisch. Vielmehr ist die Frage eines (möglichen) Ausschlusses vom Verständnis der entsprechenden europarechtlichen Vorgaben, Normen bzw. Prinzipien abhängig.
So stellt sich nach Ansicht des BayObLG zunächst die Frage, ob der fakultative Ausschlussgrund des Art. 57 Abs. 4 UAbs. 1 lit. d) der Vergaberichtlinie nur einschlägig sei, wenn der öffentliche Auftraggeber über hinreichend plausible Anhaltspunkte für einen Verstoß der Wirtschaftsteilnehmer gegen Art. 101 AEUV verfüge. Fraglich sei außerdem, ob die Aufzählung der fakultativen Ausschlussgründe in Art. 57 Abs. 4 der Vergaberichtlinie abschließend sei bzw. einem Rückgriff auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz entgegenstehe. Daran schließe sich die Frage an, ob der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz der Vergabe eines Auftrags an Wirtschaftsteilnehmer, die eine wirtschaftliche Einheit bilden und deren Angebote trotz getrennter Abgabe weder eigenständig noch unabhängig sind, entgegenstehen könne.
Vor diesem Hintergrund setzte das BayObLG das Verfahren aus und legte dem EuGH entsprechende Fragen zur gebotenen Rechtsauslegung vor.
Entscheidung des EuGH: Auch Angebote einer wirtschaftlichen Einheit müssen eigenständig und unabhängig voneinander abgegeben werden!
Zunächst hat der EuGH in seinem Urteil vom 15.09.2022 festgehalten, dass der in Art. 57 Abs. 4 UAbs. 1 lit. d) der Vergaberichtlinie genannte fakultative Ausschlussgrund zwar Situationen erfasst, in denen hinreichend plausible Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Wirtschaftsteilnehmer eine gegen Art. 101 AEUV verstoßende Vereinbarung geschlossen haben, aber nicht auf solche Vereinbarungen beschränkt ist. Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 57 Abs. 4 UAbs. 1 lit. d) der Vergaberichtline. Dieser verweise nicht auf Art. 101 AEUV. Ferner werde gerade nicht vorausgesetzt, dass eine Vereinbarung zwischen Unternehmen geschlossen sein müsse. Daher verweise Art. 57 Abs. 4 UAbs. 1 lit. d) der Vergaberichtlinie auf Fälle, in denen Wirtschaftsteilnehmer eine wettbewerbswidrige Vereinbarung gleich welcher Art schlössen, und könne nicht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen beschränkt werden. Diese Auslegung werde auch durch die Zielsetzung von Art. 57 Abs. 4 UAbs. 1 lit. d) der Vergaberichtlinie bestätigt, wonach es den öffentlichen Auftraggebern ermöglicht werden solle, die Integrität und Zuverlässigkeit der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer zu prüfen und zu berücksichtigen, um unzuverlässige Bieter, zu denen sie kein Vertrauensverhältnis hinsichtlich einer erfolgreichen Bereitstellung der betreffenden Dienstleistungen im Zuge der Ausführung des in Rede stehenden Auftrags unterhalten könnten, von Vergabeverfahren ausschließen zu können. Daher sei die Vorschrift weit auszulegen. Somit umfasse der Anwendungsbereich des fakultativen Ausschlussgrundes des Art. 57 Abs. 4 UAbs. 1 lit. d) der Vergaberichtlinie auch den Abschluss wettbewerbswidriger Vereinbarungen, die nicht unter Art. 101 AEUV fielen.
Allerdings äußerte der EuGH Zweifel, ob die zugrunde liegende Fallkonstellation unter den entsprechenden fakultativen Ausschlussgrund subsumiert werden kann. So sei hier zumindest zweifelhaft, ob zwei Wirtschaftsteilnehmer, deren Entscheidungsfindung über dieselbe natürliche Person X liefe, untereinander „Vereinbarungen“ schließen könnten. Allerdings obliege es nunmehr dem BayObLG zu prüfen, ob in Anbetracht der zwischen X und X. Reisen bestehenden Verbindung eine entsprechende Möglichkeit bestehe.
Des Weiteren hat der EuGH – unter Verweis auf seine Rechtsprechung im gleich gelagerten Kontext zu Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 93/37/EWG (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-213/07 – Michaniki, Rdn. 43, abrufbar unter folgendem Link) – festgehalten, dass in Art. 57 Abs. 4 der Vergaberichtlinie die fakultativen Ausschlussgründe abschließend aufgezählt würden, mit denen der Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren aus Gründen gerechtfertigt werden könne, die sich, gestützt auf objektive Anhaltspunkte, auf seine berufliche Eignung sowie auf einen Interessenkonflikt oder eine aus seiner Einbeziehung in die Vorbereitung dieses Verfahrens resultierende Wettbewerbsverzerrung bezögen.
Dies bedeute jedoch nicht, dass der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz der Vergabe des in Rede stehenden Auftrags an Wirtschaftsteilnehmer, die eine wirtschaftliche Einheit bilden und deren Angebote trotz getrennter Abgabe weder eigenständig noch unabhängig sind, nicht entgegenstehen stehen könne. Vielmehr sei bei miteinander verbundenen Bietern der Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt, wenn man es zuließe, dass diese Bieter abgesprochene oder abgestimmte, d. h. weder eigenständige noch unabhängige, und ihnen deshalb gegenüber den anderen Bietern möglicherweise ungerechtfertigte Vorteile verschaffende Angebote einreichen könnten. Dabei sei es zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit geboten, dass die Vergabestelle verpflichtet sei, eine Prüfung und Würdigung der Tatsachen vorzunehmen, um zu bestimmen, ob das Verhältnis zwischen zwei Einheiten den Inhalt der einzelnen im Rahmen eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens abgegebenen Angebote konkret beeinflusst habe. Dabei reiche allerdings die Feststellung eines solchen wie auch immer gearteten Einflusses aus, um die betreffenden Einheiten von dem Verfahren ausschließen zu können. Die Feststellung, dass die Verbindungen zwischen den Bietern den Inhalt ihrer im Rahmen desselben Verfahrens eingereichten Angebote beeinflusst habe, genüge nämlich dafür, dass diese Angebote von der Vergabestelle nicht berücksichtigt werden dürften, denn die Angebote müssten eigenständig und unabhängig abgegeben werden, wenn sie von miteinander verbundenen Bietern stammten. Diese Erwägungen zu miteinander verbundenen Bietern müssten erst recht für die Situation von Bietern, die eine wirtschaftliche Einheit bildeten, gelten.
Dementsprechende habe nunmehr das BayObLG zu klären, ob die Angebote von X und X. Reisen eigenständig und unabhängig voneinander abgegeben worden seien.
Unter dem Strich folgt aus dem Urteil des EuGH vom 15.09.2022, dass
Für die Praxis bedeutet dies, dass hinsichtlich eines Ausschlusses von parallelen Angeboten von Bietern, die eine wirtschaftliche Einheit bilden, die gleichen Maßstäbe gelten, wie für parallele Angebote von konzernverbundenen Unternehmen. Unter dem Strich kommt es jeweils darauf an, ob die Angebote eigenständig und unabhängig voneinander erstellt und abgegeben wurden. Ist dies – ggf. auf entsprechende Nachfrage des Auftraggebers belegbar (Chinese Walls etc.) – der Fall, müssen die Angebote im Wettbewerb verbleiben. Andernfalls sind die Angebote auszuschließen.
Veranstaltungen im Vergaberecht
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