VK Sachsen
Die Diskussion nimmt Fahrt auf: Immer mehr Vergabekammerentscheidungen beschäftigen sich mit der Frage, ob eine Vorabinformation nach § 134 GWB wirksam über ein Vergabeportal an die Bieter zugestellt werden kann. Die neueste Entscheidung zu diesem Themenbereich – diesmal von der VK Sachsen – stellen wir Ihnen in diesem Blogbeitrag dar.
Die VK Saarland ist in ihrem viel beachteten Beschluss vom 22.03.2021 (1 VK 06/2020) der Entscheidung der VK Südbayern vom 29.03.2019 (Z3-3-3194-1-07-03/19) entgegengetreten (wir berichteten jeweils in unserem Blog). Letztere hatte entschieden, dass das Einstellen einer Vorabinformation in das Postfach des Bieters auf einer Vergabeplattform die Wartefrist des § 134 Abs. 2 GWB nicht auszulösen vermöge. Demgegenüber sieht die VK Saarland keine Gründe, die einer wirksamen Zustellung der Vorabinformation über das Vergabeportal entgegenstünden. Ferner hat die VK Westfalen in ihrem Beschluss vom 31.03.2021 (VK 1-09/21, Leitsatz abrufbar unter folgendem Link; wir berichteten ebenfalls in unserem Blog) festgehalten, dass die Einstellung von Bieternachrichten in das Postfach des Bieters auf der Vergabeplattform grundsätzlich deren Zugang bewirke; allerdings hat die Vergabekammer angedeutet, dass gerade für die Vorabinformation nach § 134 GWB aus ihrer Sicht etwas anderes gelten könnte. Klar auf der Linie der VK Saarland liegt nun dagegen die VK Sachsen. Diese hat in ihrem aktuellen Beschluss vom 27.08.2021 (1/SVK/043-20, Leitsätze abrufbar unter folgendem Link) eine wirksame Vorabinformation über das Vergabeportal bejaht. Lag dem Beschluss der VK Saarland aus dem Frühjahr ein cosinex-basiertes Vergabeportal zugrunde, ging es im von der VK Sachsen entschiedenen Fall um eine Vergabeplattform der Firma Administration Intelligence AG (AI).
Der Auftraggeber führte eine europaweite Ausschreibung über eine Vergabeplattform durch und versandte schließlich am 20.11.2020 auch die Vorabinformation aus dem mit der AI Vergabeplattform verbundenen AI Vergabemanager an das Bieterpostfach der späteren Antragstellerin, und zwar sowohl auf dasjenige im Bieterbereich auf der AI Vergabeplattform als auch auf dasjenige im von der Antragstellerin verwendeten und an die Vergabeplattform angedockten Programm „AI Bietercockpit“. Unmittelbar nach dem Eingang der Nachricht im Bieterpostfach erhielt die Antragstellerin eine automatisch generierte E-Mail an die von ihr im Vergabeverfahren angegebene E-Mail-Adresse, wonach im Bieterpostfach bzw. auf der Vergabeplattform neu eingestellte Informationen zum Vergabeverfahren vorhanden seien. Die Antragstellerin lud das Informationsschreiben noch am selben Tag herunter. Im Vorabinformationsschreiben wurde insbesondere mitgeteilt, dass das Angebot der Antragstellerin mangels Erfüllung der Eignungsanforderungen vom Vergabeverfahren ausgeschlossen und der Zuschlag frühestens am 01.12.2020 auf das Angebot des Bestbieters erteilt werde.
Am 26.11.2020 rügte die Antragstellerin erfolglos ihren Angebotsausschluss gegenüber dem Auftraggeber. Der Auftraggeber erteilte am 01.12.2020 den Zuschlag auf das Angebot des Bestbieters. Am 02.12.2020 stellt die Antragstellerin einen Antrag auf Vergabenachprüfung bei der VK Sachsen. Nachdem ihr mitgeteilt wurde, dass der Zuschlag bereits erteilt worden sei, begehrte sie die Feststellung, dass der vom Auftragsgegner abgeschlossene Vertrag unwirksam sei.
Entscheidung der VK Sachsen: Der erteilte Zuschlag ist wirksam!
Zunächst hält die VK Sachsen fest, dass das Vorabinformationsschreiben dem Textformerfordernis des § 134 Abs. 2 GWB i. V. m. § 126b BGB entspreche. Voraussetzung dafür sei die Abgabe einer lesbaren Erklärung, in der die Person des Erklärenden genannt sei, auf einem dauerhaften Datenträger. Ein dauerhafter Datenträger sei jedes Medium, das es dem Empfänger ermögliche, eine auf dem Datenträger befindliche, an ihn persönlich gerichtete Erklärung so aufzubewahren oder zu speichern, dass sie ihm während eines für ihren Zweck angemessenen Zeitraums zugänglich und geeignet sei, die Erklärung unverändert wiederzugeben.
Nach der VK Sachsen sind diese Anforderungen durch die gegenständliche Nachricht gewahrt. Es handele sich bei der Nachricht um eine lesbare Erklärung, in der jeweils die Person des Erklärenden genannt worden sei. Auch sei diese auf einem dauerhaften Datenträger abgegeben worden, denn die Nachricht habe aufbewahrt, ausgedruckt und gespeichert werden können. Ebenfalls sei es bei dem verwendeten technischen System ausgeschlossen, dass der Auftraggeber einmal versendete Nachrichten nachträglich ändere oder lösche. Denn dieser habe weder auf den Bieterbereich der Vergabeplattform noch auf das Bieterpostfach des Bietercockpits Zugriff. Durch Betätigung des „Sende“-Buttons im Vergabemanager sei die Nachricht unwiderruflich „auf den Weg“ gebracht worden. Sie habe somit sowohl im Bieterbereich der Vergabeplattform als auch im Bietercockpit für einen angemessenen Zeitraum unverändert wiedergegeben werden können. Dies habe auch die Firma AI jeweils auf konkrete Nachfrage der Vergabekammer bestätigt.
In diesem Zusammenhang tritt die VK Sachsen ausdrücklich den gegenteiligen Erwägungen der VK Südbayern entgegen. Zwar habe der BGH in seinem Urteil vom 29.04.2010 (I ZR 66/08, abrufbar unter folgendem Link) im Hinblick auf die Verbraucher bei Fernabsatzverträgen gemäß §§ 312c, 355 BGB zu erteilenden Informationen, für die die Textform vorgeschrieben sei, entschieden, dass die Informationen nicht nur vom Unternehmer in einer zur dauerhaften Wiedergabe geeigneten Weise abgegeben werden, sondern dem Verbraucher auch in einer zur dauerhaften Wiedergabe geeigneten Weise zugehen müssten. Soweit die VK Südbayern jedoch in Anknüpfung an diese Entscheidung geschlussfolgert habe, dass bei dem Einstellen einer Nachricht auf einer Internetseite die Textform allenfalls dann gewahrt werde, wenn es tatsächlich zum Download dieser Nachricht durch den Empfänger komme, und dass deshalb das Freischalten der Information auf der Vergabeplattform nicht ausreichend für das Auslösen der Wartefrist des § 134 GWB sei, könne dies aus gleich mehreren Gründen nicht überzeugen.
Erstens habe das Erfordernis des Zugangs einer Erklärung mit der Frage, ob die Textform erfüllt worden sei, nichts zu tun. Denn die Form einer Erklärung müsse bei deren Abgabe bestimmbar sein und nicht erst durch etwaige Handlungen des Empfängers. Dass im Verbraucherschutzrecht dem Absender gegenüber Verbrauchern bei Widerrufsbelehrungen vom BGH wegen der „gebotenen richtlinienkonformen Auslegung“ der §§ 312c, 355 BGB zusätzliche (vor-)vertragliche Pflichten auferlegt würden, führe nicht dazu, dass dies in anderen Rechtsgebieten – wie dem Vergaberecht – mit anderen Sachverhaltskonstellationen auch gerechtfertigt und nötig sei.
Zweitens könne das Urteil des BGH zur Widerrufsbelehrung bei eBay-Angeboten nicht mit dem hier vorliegenden Sachverhalt verglichen werden. So habe die Antragstellerin das Informationsschreiben über ihr eigenes, auf ihrem PC installiertes Software-Tool „AI Bietercockpit“ empfangen. Sie habe die Nachricht in diesem Programm aufbewahren, ansehen, speichern und ausdrucken können. Sie habe ferner die so empfangene Nachricht nachweislich auch abgerufen. Diese technische Lösung sei nicht mit der Anzeige einer Widerrufsbelehrung auf einer Internetseite vergleichbar, sondern vielmehr mit dem Empfang einer E-Mail. Und diese entspreche unstreitig dem Textformerfordernis.
Drittens weiche die technische Funktionsweise der Vergabeplattform im Nachprüfungsverfahren der VK Südbayern von dem hier verwendeten System ab. Vorliegend sei unmittelbar nach der Versendung des Vorabinformationsschreibens an die Antragstellerin aus dem Vergabemanager zusätzlich eine automatisch generierte E-Mail an die bei der Registrierung von ihr angegebene E-Mail-Adresse gesendet worden. Diese Funktionalität sei bei dem von der VK Südbayern entschiedenen Fall so nicht vorhanden gewesen.
Des Weiteren hält die VK Sachsen fest, dass die Textform auch gewahrt werde, soweit nicht das beim Empfänger auf dem PC installierte (Zusatz-)Programm „AI Bietercockpit“, sondern der Bieterbereich auf der gegenständlichen Vergabeplattform selbst genutzt werde.
Ausweislich der VK Sachsen wurde die Nachricht auch im Sinne des § 134 Abs. 2 GWB „abgesendet“. Für den Beginn der zu beachtenden Wartefrist des § 134 Abs. 2 GWB komme es darauf an, wann der öffentliche Auftraggeber sich der schriftlichen Mitteilungen an die betroffenen Bieter entäußere, wann er diese Schriftstücke also aus seinem Herrschaftsbereich so herausgegeben habe, dass sie bei bestimmungsgemäßem weiteren Verlauf der Dinge die unterlegenen Bieter erreichten. Entscheidend sei es also bei Verwendung elektronischer Kommunikationsmittel, so die VK Sachsen unter Bezugnahme auf die Entscheidung der VK Saarland, dass die Nachricht den Machtbereich des Absenders verlasse und so elektronisch in Textform „auf den Weg gebracht“ werde, dass bei regelgerechtem Verlauf die Information in den Machtbereich des Empfängers gelange und auch nicht mehr vom Absender einseitig verändert oder gelöscht werden könne.
Bei der verwendeten Vergabeplattform sei bereits durch das Absenden der Nachricht aus dem Vergabemanager des Auftraggebers via Betätigung des „Sende“-Buttons damit zu rechnen, dass diese bei regelgerechtem Verlauf in den Machtbereich des Empfängers gelange. Bezüglich des von der Antragstellerin verwendeten AI Bietercockpits könne dessen technische Ausgestaltung und Funktionsweise bezüglich des Empfangs von Nachrichten mit dem Versand bzw. dem Erhalt einer E-Mail verglichen werden. Das E-Mail-Postfach des Empfängers gehöre unstreitig zu dessen Machtbereich. Auch der Bieterbereich auf der gegenständlichen Vergabeplattform gehöre zum Machtbereich des Bieters. Dieser registriere sich auf dieser Vergabeplattform und der ihm zugehörige Bieterbereich könne nur von ihm unter Angabe seines Benutzernamens und des von ihm gewählten Passwortes aufgerufen werden. Mit der Anlage eines Accounts auf der Vergabeplattform durch Registrierung, bestimme er – wie die VK Westfalen zutreffend entschieden habe – auch, dass dieses Postfach für den Empfang von Erklärungen an ihn genutzt werden könne.
Mit der VK Sachsen stellt sich eine weitere Vergabekammer mit dogmatisch überzeugenden Erwägungen auf den Standpunkt, dass die Vorabinformation wirksam über ein Vergabeportal übermittelt werden kann. Auch wenn man hier mit der gebotenen Vorsicht durchaus einen gewissen Trend ausmachen kann, bleibt gespannt zu beobachten, wie weitere Nachprüfungsinstanzen in dieser Frage entscheiden werden. In jedem Fall nimmt die infolge des Beschlusses der VK Südbayern entstandene Rechtsunsicherheit mit jeder gegenteiligen Entscheidung zu Gunsten der Vergaberechtspraxis und der Rechtsanwender ab.
Veranstaltungen zum Vergaberecht
Wir verwenden Cookies, um die Benutzerfreundlichkeit unserer Website zu verbessern und sicherzustellen, dass Sie die bestmögliche Erfahrung auf unserer Website machen. Erfahren Sie mehr.