EuGH
In der Vergabepraxis wird das Kriterium der Ortsansässigkeit eines Dienstleisters häufig nachgefragt. Der EuGH hat nun in einem spanischen Fall – sogar – für den Bereich der Pflegedienste oder anderer personenbezogener sozialer Unterstützungsdienste festgestellt, dass das Kriterium der Ortsansässigkeit zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe weder als Eignungs- noch als Zuschlagskriterium zulässig ist. Das Ziel der (Orts-)Nähe und Zugänglichkeit der Dienstleistung kann laut EuGH nämlich ebenso wirksam erreicht werden, wenn der Dienstleister diese Voraussetzung erst im Stadium der Ausführung des Auftrags erfüllen muss.
Der EuGH befasste sich in dem Vorabentscheidungsverfahren eines spanischen Obergerichtes mit der Auslegung der Art. 76 und 77 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 (EuGH, Urteil vom 14. Juli 2022, Rs. C-436/20).
Soweit ein öffentlicher Auftrag über soziale und andere besondere Dienstleistungen vorliegt, sieht die Richtlinie 2014/24/EU für diese Kategorie öffentlicher Aufträge ein vereinfachtes Vergabeverfahren als besondere Beschaffungsregelung vor. Dieses vereinfachte Vergabeverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass öffentliche Auftraggeber gemäß Art. 76 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2014/24/EU lediglich verpflichtet sind, im Vergabeverfahren die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung der Unternehmen einzuhalten. Die deutsche Gesetzesbegründung nennt als Grund, dass personenbezogene Dienstleistungen im Sozial-, im Gesundheits- und im Bildungsbereich nach wie vor lediglich eine begrenzte grenzüberschreitende Dimension aufweisen und daher ein erleichtertes Regime sachlich gerechtfertigt ist (vgl. BT-Drs. 18/7318, S. 200). Nach Art. 75 der Richtlinie 2014/24/EU sind die beabsichtigte Vergabe sowie die Ergebnisse des Vergabeverfahrens EU-weit bekannt zu machen. Gemäß Art. 74 i. V. m. Art. 4 Buchstabe d (und § 106 Absatz 2 Nummer 1 GWB) greift für soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne des Anhangs XIV der Richtlinie 2014/24/EU ein besonderer Schwellenwert von EUR 750.000. In Deutschland sind die Art. 74 bis 76 der Richtlinie 2014/24/EU in § 130 GWB und in den §§ 64 bis 66 VgV umgesetzt. Art. 77 (sog. Vorbehaltsaufträge) wurde in Deutschland – anders als im spanischen Ausgangsfall – nicht umgesetzt, so dass die diesbezüglichen Ausführungen des EuGH in Deutschland weniger relevant sind.
Kläger im EuGH-Verfahren war der spanische Staatliche Verband der Einrichtungen für häusliche Pflegedienste („ASADE“). Der Verband wollte die Nichtigkeit des „Dekrets 181/2017 der Regierung der Valencianischen Gemeinschaft zur Durchführung der konzertierten Aktion zur Erbringung sozialer Dienstleistungen im Gebiet der Valencianischen Gemeinschaft durch Einrichtungen der Sozialinitiative“ feststellen lassen.
ASADE machte geltend, dass Teile des Gesetzes, deren Durchführung das Dekret diene, gegen Unionsrecht verstoßen (Gesetz 5/1997 der Valencianischen Regierung zur Regelung des Systems der sozialen Dienstleistungen im Gebiet der Valencianischen Gemeinschaft). Einrichtungen mit Erwerbszweck würden demnach von der Möglichkeit ausgeschlossen, bestimmte soziale Unterstützungsleistungen zu erbringen, während es Einrichtungen ohne Erwerbszweck erlaubt sei, diese Unterstützungsleistungen gegen Entgelt zu erbringen, ohne dass diese ein transparentes Wettbewerbsverfahren durchlaufen müssten.
Eine Vorlagefrage betraf unter anderem die Frage, ob Art. 76 und 77 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen seien, dass sie der nationalen spanischen Regelung entgegenstünden. (Hinweis: Aufgrund der niedrigen Relevanz für das deutsche Recht werden die diesbezüglichen Ausführungen des EuGH in diesem Beitrag nicht näher dargestellt.)
Eine weitere Vorlagefrage befasste sich mit dem Thema, ob öffentliche Auftraggeber aufgrund des angefochtenen Gesetzes verlangen könnten, dass die Bieter bereits zum Zeitpunkt der Abgabe ihrer Angebote im Gebiet des Ortes ansässig sein müssen, auf das sich die zu erbringenden sozialen Dienstleistungen beziehen.
2. Entscheidung des EuGH
In Betreff auf die Auslegung der Art. 76 und 77 der Richtlinie 2014/24/EU hat der EuGH zunächst entschieden, dass Pflegedienste und andere soziale Unterstützungsdienste zwar grundsätzlich als öffentliche Aufträge einzustufen sind (soziale und andere besondere Dienstleistungen), der öffentliche Auftraggeber jedoch private Einrichtungen ohne Erwerbszweck grundsätzlich solchen mit Erwerbszweck bei der Vergabe von Dienstleistungsaufträgen vorziehen darf (sog. Vorbehaltsaufträge). Die spanische Regelung, die – anders als die deutsche – solche Vorbehaltsaufträge zulässt, sei daher grundsätzlich unionsrechtlich unbedenklich. Voraussetzung hierfür sei jedoch – wie bei den übrigen sozialen und besonderen Dienstleistungen – die Durchführung eines transparenten und wettbewerblichen Auswahlverfahrens, das sich z. B. an den entstehenden Kosten orientieren kann.
Der EuGH untersuchte in diesem Zusammenhang, ob die spanische Regelung gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und den Grundsatz der Transparenz verstößt. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass zwar grundsätzlich eine Ungleichbehandlung vorliege, die aber durch die Grundsätze der Universalität, Solidarität, Erschwinglichkeit und Geeignetheit legitimiert werden könne. Allerdings sei es selbst im Falle von Vorbehaltsaufträgen nicht zulässig, die entsprechenden Verträge ohne Ausschreibung zu vergeben. Der öffentliche Auftraggeber müsse vor der Vergabe die verschiedenen Angebote vergleichen. (Dies entspricht im deutschen Recht der Vorgabe aus § 65 Abs. 1 Satz 2 VgV, wonach das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb bei jeglichen Vergaben von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen stets nur unter den allgemeinen Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 VgV gestattet ist, d. h. bei der Wahl der Verfahrensart gerade keine „Verfahrensvereinfachungen“ bestehen.)
Der Grundsatz der Transparenz verlange darüber hinaus eine Öffnung für den Wettbewerb sowie eine Nachprüfungsmöglichkeit, ob das Vergabeverfahren unparteiisch durchgeführt worden sei. (Im deutschen Recht sind die besonderen Transparenzanforderungen für die Vergabe von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen in § 66 VgV geregelt.)
Bezüglich der weiteren Vorlagefrage, der geforderten Ortsansässigkeit der Dienstleister, hat der EuGH entschieden, dass eine nationale Regelung, welche die Ortsansässigkeit des Bieters bereits zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe als Auswahlkriterium vorschreibt, unionsrechtswidrig sei. Ein solches Kriterium verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und sei nur dann unionsrechtskonform, wenn die unterschiedliche Behandlung durch ein legitimes Ziel zu rechtfertigen sei. Ein solches Ziel könne zwar grundsätzlich in der Sicherstellung von Nähe und Zugänglichkeit der sozialen Dienstleistungen gesehen werden. Allerdings sei das Kriterium offensichtlich unverhältnismäßig. Selbst wenn die Ortsansässigkeit des Bieters erforderlich wäre, um die Nähe und Zugänglichkeit der Dienstleistungen zu gewährleisten, ließe sich dieses Ziel ebenso wirksam erreichen, wenn der Bieter diese Voraussetzung erst im Stadium der Ausführung des Auftrags erfüllen müsste.
3. Einordnung und Praxishinweis
Während die Ausführungen des EuGH zur Auslegung der Art. 76 und 77 der Richtlinie 2014/24/EU für den deutschen Rechtskreis eher wenig Bedeutung haben, ist die Entscheidung mit Blick auf das Thema der Ortsansässigkeit interessant. Der EuGH verwirft das Kriterium der Ortsansässigkeit sowohl auf Ebene der Eignung als auch auf Ebene der Angebotsauswahl vollständig. Im deutschen Recht kommt das Kriterium der Ortsansässigkeit hiernach also weder als Eignungskriterium i. S. v. § 122 Abs. 2 GWB noch als Zuschlagskriterium i. S. v. § 127 Abs. 1 GWB in Betracht. Zwar ist die EuGH-Entscheidung in dem sehr speziellen Kontext der Vergabe von sozialen Unterstützungsdienstleistungen ergangen, die Ausführungen zum Thema Ortsansässigkeit sind jedoch auf alle Dienstleistungsvergaben übertragbar. Mit anderen Worten: Wenn die Ortsansässigkeit sogar bei sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen, bei denen nach dem europäischen und deutschen Normgeber nur eine begrenzte grenzüberschreitende Dimension existiert, als unverhältnismäßig angesehen wird, muss dies erst recht für die allgemeinen Dienstleistungen gelten.
Allerdings definiert der EuGH zu Recht u. a. die Sicherstellung der Nähe und Zugänglichkeit einer Dienstleistung als legitimes Ziel einer Ungleichbehandlung von Bieterunternehmen. Dies lässt dem öffentlichen Auftraggeber ausreichend Spielraum dafür, andere auftragsbezogene Kriterien wie bestimmte Reaktions- oder Verfügbarkeitszeiten zu fordern oder zu bewerten. Auch eine solche Gestaltung bringt zwar regelmäßig (indirekte) Vorteile für ortsansässige Bieter mit sich, jedoch gibt es auch anderen interessierten Unternehmen die Möglichkeit, beispielsweise nach Zuschlagserteilung einen Standort nahe des Ausführungsorts zu errichten, um die Anforderungen zu erfüllen. Eine mittelbare Ungleichbehandlung wäre in diesem Fall durch den legitimen Zweck der Nähe und Zugänglichkeit einer Dienstleistung gerechtfertigt und auf das notwendige Maß beschränkt.
Interessant ist, dass der EuGH ausdrücklich eine Verankerung als Ausführungsbedingung anspricht. Eine Ausführungsbedingung gemäß § 128 Abs. 2 GWB ermöglicht es öffentlichen Auftraggebern, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen besondere Bedingungen für die Ausführung eines Auftrags festzulegen. Bei diesen Ausführungsbedingungen handelt es sich i. d. R. um Vertragsbedingungen. Sie dürfen sich lediglich auf den Prozess der Erbringung der Lieferung oder Leistung beziehen und somit nicht in die Prüfung der Eignung des Bieters oder in die Kriterien zur wertenden Auswahl aus mehreren Angeboten einfließen. Auftragsausführungsbestimmungen müssen dabei in sachlichem Zusammenhang mit der Auftragsausführung stehen. Demnach wäre es z. B. ebenfalls möglich, die Kosten für Anreise oder Transport dem künftigen Auftragnehmer aufzuerlegen, was im Einzelfall ebenfalls zu einem mittelbaren Vorteil für ortsansässige Unternehmen führen kann.
In vielen Fällen ist es durchaus nachvollziehbar, dass öffentliche Auftraggeber regionale Anbieter befürworten. Der Wettbewerbs- und Gleichbehandlungsgrundsatz setzt diesem Wunsch jedoch enge Grenzen. Daher sollte ein solcher Wunsch genauer hinterfragt werden. In vielen Fällen lässt sich das, was hinter dem Wunsch nach einem regional tätigen Auftragnehmer steht, auch diskriminierungsfrei im Verfahren abfragen. Ist dem öffentlichen Auftraggeber wichtig, dass der Auftragnehmer bei Wartungsverträgen in Notfällen innerhalb kurzer Zeit vor Ort ist, kann die Reaktionszeit als Zuschlagskriterium abgefragt oder eine bestimmte maximale Reaktionszeit als Ausführungsbedingung festgelegt werden. Stehen jedoch wirtschaftliche Gesichtspunkte hinter dem Wunsch, beispielsweise die Erzielung zusätzlicher Gewerbesteuereinnahmen oder die Förderung der regionalen Wirtschaft, gibt es richtigerweise keine Möglichkeit, diese Aspekte in ein Vergabeverfahren einzubringen.
Veranstaltungen zum Vergaberecht
Wir verwenden Cookies, um die Benutzerfreundlichkeit unserer Website zu verbessern und sicherzustellen, dass Sie die bestmögliche Erfahrung auf unserer Website machen. Erfahren Sie mehr.