Urteil vom 18.06.2019, X ZR 86/1
Mit seinem Urteil vom 18.06.2019 (X ZR 86/17, abrufbar unter folgendem Link) hat der BGH für ein kleines Erdbeben in der sonst eher beschaulichen Welt des Vergaberechts gesorgt. Denn mit seiner Entscheidung hat der BGH eine Abkehr von der bis dahin formalistisch geprägten und von vielen Auftraggebern nicht zuletzt mit Blick auf die rechtssichere Handhabbarkeit lieb gewonnenen Rechtsprechung vollzogen, nach der jede Abweichung von den Vergabeunterlagen zum Ausschluss des Angebots führen muss. Der BGH befand, dass die Regelungen zu den Ausschlussgründen durch den Wertungswandel im Zuge der Vergaberechtsnovelle im Jahr 2016 nicht mehr entsprechend dem Grundsatz formaler Ordnung anzuwenden seien. Vielmehr sei die Motivation der Abweichung aufzuklären. In diesem Sinne führe nicht mehr jede Änderung der Vergabeunterlagen zum Ausschluss, sondern die Vergabestelle habe den „wirklichen Willen“ des Bieters zu erforschen. Dementsprechend ist nunmehr insbesondere bei Zusätzen zu den Vergabeunterlagen, die hinweggedacht werden können, ohne dass das Angebot nicht mehr vollständig wäre, zunächst eine Auslegung des Angebots vorzunehmen. Sofern diese nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt, ist eine Aufklärung mit dem Bieter durchzuführen. Der Aufklärung ist allein durch das Nachverhandlungsverbot eine Grenze gesetzt. Das heißt, dem Bieter darf nicht die Gelegenheit gegebenen werden, sein Angebot nachträglich inhaltlich abzuändern bzw. nachzubessern.
Der brandaktuelle Beschluss des OLG Schleswig vom 12.11.2020 (54 Verg 2/20, abrufbar unter folgendem Link) knüpft an die zuvor skizzierte Rechtsprechung des BGH an und setzt sich konkret mit der Zulässigkeit bzw. Erforderlichkeit und dem Umfang einer Aufklärung sowie der Frage, wie mit sich änderndem Inhalt der Rückmeldungen des Bieters im Zuge der Aufklärung umzugehen ist, auseinander.
Aber lesen Sie selbst…
Der Auftraggeber und spätere Antragsgegner schrieb gemeinwirtschaftliche Verkehrsleistungen mit Linienbussen im Wege eines offenen Verfahrens europaweit aus. In den Vergabeunterlagen wurden die Grundlagen der Angebotskalkulation beschrieben. Insoweit hatten die Bieter in einem Kalkulationsschema bestimmte Kosten einzutragen.
Unter anderem gaben die spätere Antragstellerin und die spätere Beigeladene ein Angebot ab. Der Auftraggeber teilte der Antragstellerin im Rahmen des Vorabinformationsschreibens mit, dass die Beigeladene für den Zuschlag vorgesehen sei. Daraufhin erhob die Antragstellerin diverse Rügen. Nachdem der Auftraggeber die Rügen zurückgewiesen hatte, stellte die Antragstellerin einen Vergabenachprüfungsantrag. Diesen verwarf die VK Schleswig-Holstein. Daraufhin legte die Antragstellerin sofortige Beschwerde bei dem OLG Schleswig ein.
Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens erhielt die Antragstellerin auszugsweise Akteneinsicht in das von der Beigeladenen ausgefüllte Kalkulationsschema und den Vermerk des Auftraggebers zur Angebotsaufklärung mit der Beigeladenen. Daraus ergab sich, dass die Beigeladene im Kalkulationsschema in der Zeile „Fahrzeugreserve in %“ „0 %“ eingetragen hatte. Auf die Fragen des Auftraggebers, wo die Fahrzeugreserve kalkuliert und wie hoch sie bemessen worden sei, antwortete die Beigeladene zunächst, dass eine auf langjährigen Erfahrungen basierende Fahrzeugreserve in der Position „Euro je Fahrzeug und Jahr“ einkalkuliert worden sei und gab einen bestimmten Prozentsatz an.
Nachdem die Antragstellerin durch die Akteneinsicht Kenntnis von den entsprechenden Vorgängen erhalten hatte, rügte sie über ihren bisherigen Vortrag hinausgehend, dass das Angebot der Beigeladenen entgegen § 53 Abs. 7 Satz 2 VgV nicht die geforderten Preise enthalte. Da die Beigeladene die Kosten der Fahrzeugreserve mit 0 % angegeben habe, sei ihre Preisangabe nicht vollständig. Zudem enthalte das Angebot entgegen § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV nicht alle geforderten Angaben. Eine Fahrzeugreserve sei nicht angeboten worden. Schließlich habe die Beigeladene eine unzulässige Änderung der Vergabeunterlagen im Sinne von § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV vorgenommen, indem sie die Kosten der Fahrzeugreserve angeblich in die Kosten je Fahrzeug eingerechnet habe.
Die Beigeladene trug daraufhin vor, sie habe das Kalkulationsschema zutreffend ausgefüllt. Sie werde für die Erfüllung des Auftrags 79 Neufahrzeuge anschaffen. Der Rahmenvertrag mit dem Hersteller sehe eine Verfügbarkeitsgarantie vor. Der Hersteller habe eine bestimmte Anzahl Fahrzeuge vorgesehen, die er innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zur Verfügung stellen könne. Die Verfügbarkeitszusage sei mit dem Kaufpreis abgegolten. Daneben verfüge sie über ausreichend eigene Fahrzeuge, die als Ersatzfahrzeuge für andere Verkehrsverträge angeschafft worden seien und kurzfristig verfügbar gemacht werden könnten.
Der Auftraggeber stellte aufgrund der Erklärung der Beigeladenen zu ihrem Fahrzeugkonzept eine weitere Aufklärungsfrage dahingehend, wie die Beigeladene die Vorgabe erfüllen wolle, dass ein Einsatzfahrzeug innerhalb von 30 Minuten jeden Teil des Netzes erreichen können müsse. Die Beigeladene teilte daraufhin mit, dass diese Anforderung bereits mit den Fahrzeugen aus dem Regelbetrieb erfüllt werden könne, deren Einsatz umdisponiert werden könne. Daneben stünden die dezentral stationierten Fahrzeuge des Herstellers zur Verfügung. Ferner könne sie mit einer gewissen Zeitverzögerung Ersatzfahrzeuge aus anderen Netzgebieten beschaffen.
Entscheidung des OLG Schleswig: Die Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Der Auftraggeber hat das Vergabeverfahren fortzusetzen und dabei zu prüfen, ob das Angebot der Beigeladenen auszuschließen ist!
Nach Ansicht des OLG Schleswig bestehen zumindest Anhaltspunkte dafür, dass die Beigeladene mit dem von ihr verfolgten Fahrzeugkonzept die ausgeschriebenen Leistungen nicht werde erbringen können. Sollten sich diese Anhaltspunkte nicht im Wege einer weiteren Aufklärung ausräumen lassen, so das OLG weiter, liege darin eine Änderung der Vergabeunterlagen, die nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV zum Ausschluss des Angebots der Beigeladenen von der Wertung führen müsse.
Zunächst stellt das OLG Schleswig unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BGH klar, dass eine Änderung der Vergabeunterlagen im Sinne der §§ 53 Abs. 7 Satz 1, 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV dann vorliege, wenn der Bieter manipulativ in die Vergabeunterlagen eingreife, indem er ein von den Vorgaben abweichendes Angebot mache, das bei einem Wegdenken der Abweichungen unvollständig bleibe. Dazu sei keine körperliche Änderung im Sinne einer Änderung der vorgegebenen Leistungsmengen oder -beschreibungen notwendig. Vielmehr reiche es, dass der Bieter bei der Ausfüllung von Berechnungsschemata von den Vorgaben abweiche. Ferner liege eine Änderung der Vergabeunterlagen auch dann vor, wenn das Angebot von den Leistungsvorgaben in der Ausschreibung abweiche. Hingegen komme ein Ausschluss eines Angebots unter rein formalen Gesichtspunkten nicht in Betracht. Vielmehr seien etwaige Unklarheiten unter Anknüpfung an die Rechtsprechung des BGH im Wege der Aufklärung zu beseitigen. Sanktioniert werden solle nur ein manipulativer Eingriff in die Vergabeunterlagen.
Vor diesem Hintergrund sei aufgrund der Erläuterungen der Beigeladenen im Beschwerdeverfahren im Ergebnis nicht mehr davon auszugehen, dass eine Änderung der Vergabeunterlagen darin liege, dass sie in der Zeile „Fahrzeugreserve in %“ „0 %“ eingetragen habe. Insoweit arbeitet der Vergabesenat die Aussagen der Beigeladenen in chronologischer Hinsicht auf, wie folgt:
Das Angebot der Beigeladenen sei nach dem ursprünglichen Ergebnis der Angebotsaufklärungwegen einer Änderung der Vergabeunterlagen auszuschließen gewesen. Insoweit sei nicht zu beanstanden, dass der Auftraggeber eine Aufklärung des Angebots versucht habe. Denn nach § 15 Abs. 5 VgV dürfe die Vergabestelle die Aufklärung über Angebote verlangen, wenn sie Zweifel an dem Inhalt des Angebots habe, die durch Auslegung nicht ausgeräumt werden könnten. Dass die Beigeladene die Kosten für die Reservefahrzeuge mit 0 % angegeben habe, schließe eine Aufklärung nicht aus. Diese Angabe sei noch kein zwingender Grund für einen Ausschluss von der Wertung nach§ 57 Abs. 1 Nr. 5 VgV gewesen, weil das Angebot durch sie nicht unvollständig geworden sei. Auch die Angabe 0,00 sei eine zulässige Preisangabe, wenn sie denn zutreffend sei. Aufklärung könne auch in einem solchen Fall gefordert werden, da nicht ausgeschlossen sei, dass der Bieter für diese Position keine Vergütung fordern wolle. Führe die Aufklärung allerdings zu dem Ergebnis, dass die Vergabeunterlagen geändert worden seien, sei das Angebot zwingend nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV von der Wertung auszuschließen. So habe es, so das OLG Schleswig weiter, hier gelegen, weil die Beigeladene angegeben habe, sie habe die Kosten für die Reservefahrzeuge mit einem bestimmten Prozentsatz bereits in die Kosten für die regulär einzusetzenden Busse einbezogen. Dadurch sei die Beigeladene von den Vorgaben in dem Berechnungsschema abgewichen. Damit habe jedenfalls scheinbar ein manipulativer Eingriff in die Vergabeunterlagen vorgelegen, der zum Ausschluss hätte führen müssen.
Allerdings, so führt der Vergabesenat weiter aus, seien die entsprechenden Angaben der Beigeladenen in der Aufklärung falsch gewesen, jedenfalls stünden sie in Widerspruch zu ihren jetzigen Angaben. Dem Auftraggeber sei es erkennbar um die Frage gegangen, wo und in welcher Höhe Kosten für die Fahrzeugreserve einkalkuliert worden seien. Zwar möge es zutreffend gewesen sein anzugeben, dass die Kosten für die Fahrzeugreserve in den Kosten je Fahrzeug und Jahr enthalten gewesen seien, da die Kosten für die Verfügbarkeitsgarantie in den Kosten für die Busse enthalten seien. Die einzig richtige Antwort auf die Frage, wie hoch die Kosten für die Reserve seien, sei allerdings gewesen, dass gesonderte Kosten nicht haben ausgewiesen werden können, weil sie nicht anfallen würden. Hingegen sei die seitens der Beigeladenen erfolgte Angabe, dass Kosten in bestimmter Höhe einkalkuliert worden seien, falsch und irreführend.
Anhaltspunkte dafür, dass die Beigeladene seit der Beantwortung der Aufklärungsfragen ihre Kalkulation geändert habe, lägen nicht vor, insbesondere sei die Auskunft des Herstellers über die Fahrzeugpreise samt enthaltener Verfügbarkeitsgarantie so datiert, dass angenommen werden könne, dass sie bereits Grundlage für das Angebot der Beigeladenen gewesen sei.
Nach der jetzigen Erklärung der Kalkulationkomme nach dem OLG Schleswig ein Ausschluss des Angebots der Beigeladenen nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV nicht mehr infrage. Denn wenn keine ausscheidbaren Kosten für das Vorhalten der Fahrzeugreserve anfielen, habe die Beigeladene diese auch nicht angeben können. Für die Verfügbarkeitsgarantie fielen keine ausscheidbaren Kosten an, denn diese Kosten seien in den Kosten für die Beschaffung der Fahrzeuge enthalten. Auch für die Fahrzeuge, die für andere Netze bereitgehalten würden, entstünden keine ausscheidbaren Kosten, weil die Kosten in den anderen Verkehrsverträgen berücksichtigt worden seien.
Die Beigeladene sei, so der Vergabesenat weiter, nicht an ihren falschen Angaben in der Angebotsaufklärung festzuhalten. Zum einen gelte im Nachprüfungsverfahren der Untersuchungsgrundsatz. Dieser schließe es aus, einen Sachverhalt nicht zu berücksichtigen, der der Vergabekammer bzw. dem Vergabesenat im Verfahren bekannt werde. Zum anderen werde durch eine Nichtberücksichtigung neuen Vortrags das rechtliche Gehör der Beigeladenen beschnitten. So habe sich der Auftraggeber mit den Antworten der Beigeladenen zufrieden gegeben. Erst durch die neuen Rügen der Antragstellerin nach der Akteneinsicht sei eine neue Lage entstanden. Auf diese habe die Beigeladene die Möglichkeit haben müssen zu reagieren, um ihre Chance auf den Zuschlag zu wahren.
Allerdings hält das OLG Schleswig sodann abschließend fest, dass es nach dem nun vorgetragenen Fahrzeugkonzept der Beigeladenen fraglich sei, ob sie die Vorgaben des Auftraggebers zum Vorhalten einer Reserve und dem Einsatz von Ersatzfahrzeugen erfülle. Das sei bisher vom Auftraggeber nicht hinreichend geprüft worden. Insoweit sei der Auftraggeber zur weiteren Aufklärung berufen.
Im Beschluss des OLG Schleswig wird zunächst in Anknüpfung an die BGH-Rechtsprechung aus dem Sommer 2019 bekräftigt, dass eine Änderung der Vergabeunterlagen im Sinne der §§ 53 Abs. 7 Satz 1, 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV nur dann vorliegt, wenn der Bieter manipulativ in die Vergabeunterlagen eingreift, indem er ein von den Vorgaben abweichendes Angebot macht, das bei einem Hinwegdenken der Abweichungen unvollständig bleibt. Hingegen kommt ein Ausschluss eines Angebots unter rein formalen Gesichtspunkten nicht mehr in Betracht. Vielmehr müssen mögliche – nach einer Auslegung verbleibende – Unklarheiten im Wege der Aufklärung beseitigt werden.
Des Weiteren folgt aus der Entscheidung des OLG Schleswig aber auch, dass Auftraggeber die Aufklärungsfragen präzise stellen und auch die Antworten des Bieters ganz genau unter die Lupe nehmen müssen. Möglicherweise sind sie gehalten, nochmals nachzuhaken und gegebenenfalls sich auf Grundlage der Rückmeldungen des Bieters im Zuge der Aufklärung ergebende Folgefragen zu stellen. Ansonsten laufen sie Gefahr, dass im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens – wie im hiesigen Fall – die Aufklärung für unzureichend befunden wird.
Veranstaltungen im Vergaberecht
Wir verwenden Cookies, um die Benutzerfreundlichkeit unserer Website zu verbessern und sicherzustellen, dass Sie die bestmögliche Erfahrung auf unserer Website machen. Erfahren Sie mehr.