VK Bund, Beschluss vom 20.07.2022 – Az. VK 2-60/22
Eine Interimsvergabe gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bedarf äußerst dringlicher, zwingender Gründe; die Umstände, welche die Dringlichkeit begründen, dürfen dem öffentlichen Auftraggeber hierbei nicht zuzurechnen sein. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ermöglicht die unzulässige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb die Nichtigkeitsfeststellung gem. § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB.
Die Vergabekammer des Bundes hatte sich in vorgenanntem Verfahren mit der Frage zu befassen, ob und inwieweit Verzögerungen im regulären Vergabeverfahren als Begründung der Dringlichkeit tragen können.
Im Ergebnis stellt die Vergabekammer fest, dass Verzögerungen im regulären Vergabeverfahren regelmäßig dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen sind, ohne dass es eines Verschuldens im engeren Sinne bedarf.
Die Antragsgegnerin hatte eine Bekanntmachung vergebener Aufträge im Supplement zum Amtsblatt der EU unionsweit veröffentlicht. Die hierin als bezuschlagtes Unternehmen benannte Beigeladene war zuvor als einziges Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert worden.
Zur Begründung der Verfahrenswahl wies die Antragsgegnerin auf die Erforderlichkeit der Beschaffungsgegenstände zur Sicherung bedeutender Rechtsgüter wie Leib und Leben und öffentliche Sicherheit sowie auf dringende, unvorhergesehene Gründe hin:
Mit Erreichen einer Vertragsauslastung i.H.v. 73,7 % der Bestandsrahmenvereinbarung im Herbst 2021 begann die Antragsgegnerin mit der Vorbereitung einer Neuvergabe. Zu diesem Zeitpunkt rechnete die Antragsgegnerin mit dem Ausschöpfen der Maximalmengen aus der Bestandsrahmenvereinbarung im Juli 2022. Im Februar 2022 wurde eine Nachfolgerahmenvereinbarung im offenen Verfahren mit ursprünglich angesetzter Angebotsfrist für den 21.03.2022 ausgeschrieben.
Aufgrund unvorhergesehener Umstände habe sich dann jedoch überraschend das Abrufverhalten intensiviert, sodass das Erreichen der Maximalmengen bereits für einen früheren Zeitpunkt prognostiziert wurde.
Das Ende der Angebotsfrist, welches ursprünglich bereits 10 Tage über der Mindestfrist gem. § 15 Abs. 2 und 4 VgV lag, sei zudem im Verfahrensverlauf zu verlängern gewesen. Aufgrund mehrerer Bieterfragen, in welchen auf pandemiebedingt Hohe Arbeitsbelastungen bei den Bietern hingewiesen wurde, sei ersichtlich geworden, dass innerhalb der ursprünglichen Angebotsfrist nicht mit zuschlagsfähigen Angeboten gerechnet werden könne. Durch die Verlängerung der Angebotsfrist habe sich der prognostizierte Zuschlagstermin vom Juni in den August 2022 verschoben.
Die Beigeladene sei – als Bestandsauftragnehmerin – einzige Marktteilnehmerin gewesen, welche die aufgrund der Terminverschiebungen entstehende Versorgungslücke habe kurzfristig decken können.
Die Antragstellerin, welche sich auch im offenen Verfahren beteiligte, beantragte bei der Vergabekammer die Feststellung der Nichtigkeit der Interimsvergabe.
Mit Erfolg!
Die Antragsgegnerin verkannte nach Auffassung der Vergabekammer
„grundlegend die Anforderungen, die an die Tatbestandsmerkmale der Norm zu stellen sind, bei deren Vorliegen eine Ausnahme von der Pflicht zur europaweiten Vergabe überhaupt greifen kann.“
So handele es sich hier bereits nicht um einen akuten, unvorhergesehenen Bedarf der Antragsgegnerin, sondern um den
„normalen, regulären und kontinuierlichen Beschaffungsbedarf der Ag, dem keine Sondersituation zugrunde liegt.“
Dieser könne bereits grundsätzlich nicht unter die Ausnahmevorschrift des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV subsummiert werden.
Zudem weist die Vergabekammer in ihrer Entscheidung – obschon dies nicht mehr entscheidungstragend war – darauf hin, dass die Umstände zur Begründung der Dringlichkeit nicht dem Auftraggeber zuzurechnen sein dürfen. Dies sei jedoch bei Verzögerungen innerhalb eines anderen Vergabeverfahrens, welche hier als alleinige Begründung für die Dringlichkeit aufgezeigt wurden, regelmäßig der Fall, da die Auftraggeberin – als Herrin entsprechender Verfahren – für eine Verfahrensgestaltung mit angemessenen Zeitpuffern zu sorgen habe. Im hiesigen Fall waren zwischen Erkennen des Beschaffungsbedarfs und Veröffentlichung des Verfahrens 5 Monate vergangen; dies obwohl im Jahr 2019 eine nahezu identische Vergabe durchgeführt wurde, sodass keine Gründe für die erhebliche Vorbereitungszeit erkennbar waren. Nach dem Zeitplan der Antragsgegnerin zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war der Zuschlag im offenen Verfahren überdies nur eine Woche vor dem prognostizierten Erreichen der Maximalabrufmenge aus der vorhergehenden Rahmenvereinbarung geplant. Zeitliche Puffer für Verzögerungen waren hier komplett außer Acht gelassen worden.
Die Entscheidung der Vergabekammer ist im Ergebnis richtig.
Zutreffend und instruktiv hat sie herausgearbeitet, welche Voraussetzungen für die Anwendung der Vorschrift des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vorliegen müssen.
Dass jedoch die Interimsbeschaffung für Regelbedarfe stets ausgeschlossen sei,
ist nach hiesiger Auffassung – entgegen der Auffassung der Vergabekammer des Bundes – nicht selbsterklärend und hätte deshalb durchaus weiterer Klärung bedurft. Eine Eingrenzung des Anwendungsbereichs auf akute Gefahrensituationen und höhere Gewalt ist weder dem Wortlaut der VgV noch der RL 2014/24/EU zu entnehmen.
Insbesondere die Problematik der Zurechenbarkeit von Verzögerungen wird dagegen treffend bearbeitet. Mangels entsprechenden Sachverhalts bestand hier leider kein Anlass für die Vergabekammer Anhaltspunkte für ein angemessenes Maß an zeitlichen Puffern aufzuzeigen, die bei der Vergabeplanung berücksichtigt werden sollten, weil die Antragsgegnerin gänzlich auf Puffer verzichtete.
Für öffentliche Auftraggeber steht nicht erst seit dieser Entscheidung fest, dass in jedem Vergabeverfahren mit zeitlichen Puffern für unerwartete, aber im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 3 aE VgV zurechenbare Verzögerungen im Verfahren geplant werden muss. Hierzu gehören nicht nur Verzögerungen aufgrund von Angebotsfristverlängerungen, sondern auch solche, die aufgrund von Aufklärungsmaßnahmen, Rügen und Nachprüfungsverfahren entstehen.
Aus eigener Beratungspraxis ist zudem bekannt, dass nach der nachvollziehbaren – jedoch aus Sicht öffentlicher Auftraggeber des Landes Berlin höchst undankbaren – Auffassung des Kammergerichts in Berlin auch Verzögerungen, welche aufgrund von überlangen Vergabenachprüfungsverfahren entstehen, nicht zulasten von Bieterinteressen gehen dürfen; auch diese rechnet das Kammergericht den öffentlichen Auftraggebern zu (KG, Beschluss vom 26.01.2022 – Az. Verg 8/21). Die „Angemessenheit“ zeitlicher Puffer für das Vergabeverfahren ist auf dieser Basis kaum belastbar festzulegen.
Der Anwendungsbereich für zulässige Dringlichkeitsvergaben gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ist und bleibt in der Spruchpraxis vergaberechtlicher Spruchkörper (außerhalb der pandemiebedingten zulässigen Notvergaben in jüngerer Vergangenheit) eher theoretisches Gedankenspiel, als eine rechtssicher praktikable Rückfallebene für ungeplante Hindernisse im Beschaffungsvorgang.
Veranstaltungen zum Vergaberecht
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