Urteil vom 17. Juni 2021 – Rs. C-23/20
Paukenschlag aus Luxemburg: Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt, dass auch im Anwendungsbereich des aktuellen Vergaberechts bei der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen den Bietern zwingend eine Höchstgrenze genannt werden muss. Wird diese im Rahmen der Abrufe erreicht, verliert die Rahmenvereinbarung ihre Wirkung (Urteil vom 17. Juni 2021 – Rs. C-23/20).
Die Region Nordjütland schrieb 2019 Ausrüstung für künstliche Ernährung über Sonden als Rahmenvereinbarung in einem offenen Verfahren aus. Die Teilnahme der Region Süddänemark war optional vorgesehen und musste von den Bietern über alle Positionen des Vertrags angeboten werden. Die Auftragsbekanntmachung enthielt weder Angaben zum geschätzten Wert der Beschaffung noch zum Höchstwert der Rahmenvereinbarung oder zur geschätzten Menge oder Höchstmenge der zu beschaffenden Waren. Enthaltene Schätzungen zum Auftragsumfang waren mit dem Hinweis verbunden, dass diese lediglich Ausdruck der Erwartung des Auftraggebers hinsichtlich des Verbrauchs seien und der tatsächliche Verbrauch sich als niedriger oder höher erweisen könne.
Im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens eines unterlegenen Bieters legte das dänische Gericht dem EuGH die Frage vor, ob die Richtlinie 2014/24/EU eine Bekanntmachung von Schätzwert bzw. Schätzmenge und Höchstwert bzw. Höchstmenge verlange und darüber hinaus auch eine Differenzierung hinsichtlich mehrerer Rahmenvertragspartner vorzunehmen sei. Zudem bat das Gericht um Auskunft, ob ein Verstoß gegen eine Bekanntmachungspflicht zu einer (festzustellenden) Unwirksamkeit eines hierauf gründenden Auftrags führe.
Der EuGH stellt zunächst fest, dass aus dem Wortlaut der einschlägigen Regelungen der auf den Fall anwendbaren Richtlinie 2014/24/EU eine Pflicht zur Bekanntmachung von Schätz- und Höchstmengen von Rahmenvereinbarungen nicht eindeutig erkennbar sei. Art. 33 Abs. 1 spreche davon, in einer Rahmenvereinbarung nur „gegebenenfalls“ die in Aussicht genommene Menge festzulegen. Für die Bekanntmachung verlange die Richtlinie in Anhang V Teil C Nr. 8 nur eine „Größenordnung“, die nach Nr. 10 nur „soweit möglich“ anzugeben sei. Das korrespondierende Bekanntmachungsmuster (Anhang II zur EU-Durchführungsverordnung 2015/1986) verlange unter II.1.5) nur den „geschätzten Gesamtwert“, „falls zutreffend“.
Mit Blick auf den Transparenz- und den Gleichbehandlungsgrundsatz hält der Gerichtshof es allerdings für nicht hinnehmbar, dass Auftraggeber in der Bekanntmachung keine Angaben zu einem Höchstwert der gemäß Rahmenvereinbarung zu liefernden Waren machten. Vielmehr verlangten diese Grundsätze, dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens in der Bekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen klar, genau und eindeutig formuliert sind, damit alle durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt ihre genaue Bedeutung verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und der Auftraggeber imstande ist, tatsächlich zu überprüfen, ob die Angebote der Bieter die für den betreffenden Auftrag geltenden Kriterien erfüllen. Weiterhin sehe Art. 5 der Richtlinie die Pflicht des Auftraggebers zur Schätzung des (Gesamt-)Auftragswerts vor. Das Ergebnis der Schätzung könne der Auftraggeber dann den Bietern auch mitteilen. Im Übrigen verlangten andere Passagen des einschlägigen EU-Bekanntmachungsformulars zwingend die Angabe des maximalen Gesamtwerts jedes Loses, was übertragen auf eine Rahmenvereinbarung auch dort für eine Pflicht zur Bekanntmachung spreche. Schließlich weist der EuGH auf praktische Konsequenzen hin, die entstehen, wenn der Auftraggeber die Höchstmenge einer Rahmenvereinbarung nicht festlegen muss: Rahmenvereinbarungen könnten wettbewerbsverschließend überzeichnet werden, Auftragnehmer müssten auch über die erwartete Gesamtmenge hinaus leistungsbereit bleiben und könnten sich bei Weigerung zur Leistung schadensersatzpflichtig machen.
Vor diesem Hintergrund sieht das Gericht eine Pflicht zur Bekanntmachung von Schätzwert oder Schätzmenge und Höchstwert oder Höchstmenge in der Auftragsbekanntmachung. Entsprechend verliere eine Rahmenvereinbarung ihre Wirkung, wenn diese Menge oder dieser Wert erreicht sei.
Eine darüber hinausgehende Pflicht des Auftraggebers, z. B. zur Zuordnung von Liefermengen zu den einzelnen Auftraggebern bei Teilnahme mehrerer an einer Rahmenvereinbarung, besteht nach Ansicht des EuGH hingegen nicht. Diese Angaben könne der Auftraggeber freiwillig vornehmen, müsse es aber nicht.
Schließlich sieht der Gerichtshof in einer fehlenden Bekanntgabe von Schätzwert oder -menge und Höchstwert oder -menge keinen so schwerwiegenden Vergabeverstoß, dass als Rechtsfolge die Unwirksamkeit der (dennoch erfolgten) Auftragsvergabe festgestellt werden könne. Art. 2 d der Rechtsmittelrichtlinie (entspricht § 135 Abs. 1 GWB) sehe dies nur für schwerste Verstöße gegen das Vergaberecht vor, etwa die Auftragsvergabe gänzlich ohne vorherige Bekanntmachung. Ein Verstoß gegen die erforderlichen Mengen- oder Wertangaben einer Rahmenvereinbarung in einer gleichwohl erfolgenden Bekanntmachung habe hingegen nicht dieses Ausmaß der Schwere. Zudem könne das Fehlen der Angaben jederzeit durch die Bieter bemerkt und entsprechend gerügt oder in einem Nachprüfungsverfahren überprüft werden.
Die Tragweite dieser Entscheidung ergibt sich erst auf den zweiten Blick. Denn bereits 2018 hatte der EuGH die Angabe entsprechender Höchstgrenzen bei der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen verlangt (Urteil vom 19. Dezember 2018 – Rs. C-216/17). Dies ging damals allerdings deutlicher aus dem seinerzeit zugrunde liegenden Rechtsrahmen der EU-Richtlinie 2004/18 hervor. Der nunmehr gegenständliche Sachverhalt einer Rahmenvertragsvergabe nach dänischem Recht beruhte hingegen auf der EU-Richtlinie 2014/24, deren Wortlaut – wie oben gezeigt – weniger eindeutig ist.
Für das deutsche Vergaberecht ist diese Entscheidung besonders pikant. Denn zum einen enthält § 21 Abs. 1 Satz 2 VgV eine gegenüber dem Wortlaut des Art. 33 der Richtlinie 2014/24/EU noch offenere Formulierung („Das in Aussicht genommene Auftragsvolumen ist so genau wie möglich zu ermitteln und bekannt zu geben, braucht aber nicht abschließend festgelegt werden.“). Zum anderen hat die vergaberechtliche Rechtsprechung bislang angenommen, dass die Entscheidung des EuGH vom Dezember 2018 zur Höchstgrenze bei Rahmenvereinbarungen nicht auf die geänderte Rechtslage des § 21 VgV anwendbar ist (so VK Bund, Beschluss vom 19. Juli 2019 – VK1-39/19).
Öffentliche Auftraggeber sollten daher laufende Ausschreibungen von Rahmenvereinbarungen darauf hin überprüfen, ob den Bietern Schätzwert oder -menge und Höchstwert oder -menge wirksam mitgeteilt worden ist und diese Angaben im Zweifel zur Vermeidung von Rügen und Nachprüfungsverfahren nachreichen, sofern dies möglich ist. Stehen Angebotsfristen kurz vor dem Ablauf, sollte gegebenenfalls über eine Fristverlängerung im Zusammenhang mit der Nachreichung der Angaben nachgedacht werden.
Aber auch bereits abgeschlossene Rahmenvereinbarungen, denen entsprechende Angaben fehlen, können sich mit Blick auf die vom EuGH abgesprochenen Rechtsfolgen als problematisch darstellen. Denn die fehlenden Angaben können zu nicht unerheblichen Rechtsunsicherheiten bei Einzelabrufen führen, die der Auftraggeber noch vom Leistungsumfang der Rahmenvereinbarung als abgedeckt ansieht, der Auftragnehmer oder potenzielle Wettbewerber hingegen nicht mehr. Eine „Rettung“ in eine unwesentliche Auftragserweiterung nach § 132 GWB ist hier auch nicht in jedem Falle möglich, da ohne feste Bezugsgröße die Grenzen einer solchen Auftragserweiterung verschwimmen – und zumindest der Auftragnehmer der Erweiterung auch zustimmen muss (so jedenfalls der EuGH in Rn. 70 der Entscheidung C-23/20).
Die Feststellung, dass eine Rahmenvereinbarung bereits vor der jetzigen Entscheidung des EuGH abgeschlossen wurde, dürfte auch keinen sicheren Hafen darstellen. Denn dem Urteil kommt insofern keine „Rechtssetzungsqualität“ zu. Vielmehr stellt es nur fest, wie die Rechtslage seit Inkrafttreten der zugrunde liegenden EU-Richtlinie bzw. ihrer nationalen Umsetzung ist – in Deutschland also seit dem 18. Oktober 2018.
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